Jugendmusikbewegung unter den Bedingungen des Nationalsozialismus
Die Jahre 1933-1945
Kommentar zur Quellenlage: Die NS-Zeit ist im Archivbestand weniger dokumentiert als die Phasen vor 1933 und nach 1945. Aktennotizen deuten an, dass teilweise Akten unter Verschluss gehalten wurden; es ist unklar, ob auch Dokumente aussortiert wurden. Dennoch wurde in den Jahren des Archivaufbaus bewusst auch eine Sammeltätigkeit begonnen, um Material zur Zeit 1933-1945 bereit stellen zu können. Allerdings war sie oft von einer subjektiven Perspektive geleitet, wie u.a. aus Briefen hervorgeht. Abgesehen von personenbezogenen Dokumenten wie Briefen und rückblickenden Berichten sind Programme, Aufsätze, Liedsammlungen etc. vorhanden, auch wenige Fotos und Tondokumente. Wichtig sind in diesem Zusammenhang vor allem die Originalpublikationen in Zeitschriften und Textsammlungen jener Zeit. Als eine wichtige Quelle kann dabei die Dokumentation „Musik und Musikerziehung in der Hitlerjugend“ von Wolfgang Stumme angesehen werden, in der er vorwiegend Zeitschriftenbeiträge der NS-Zeit zu verschiedenen Themen zusammenstellte.

Nachdem die Jugendmusikbewegung bereits erste Krisen durchlebt hatte, stellte der politische Umbruch 1933 die Mitwirkenden vor eine ganz neue Herausforderung: Der 30. Januar 1933 war auch für die Jugendmusikbewegung ein einschneidendes Datum. Spätestens mit dem weiteren Verlauf des Prozesses der Machtergreifung durch die NSDAP und einem zunehmenden Druck auf Institutionen und Einzelpersonen, musste den Akteuren der Jugendmusikbewegung bewusst werden, dass sie ihre Tätigkeiten nicht wie bisher weiterführen konnten. Nicht zuletzt waren auch ihre Vereine und Organisationen von Gleichschaltung oder Enteignung bedroht. So wurden die Musikantengilde und der Finkensteiner Bund in den Reichsbund für Volkstum und Heimat überführt, allerdings fanden sich einige Finkensteiner auch im neuen „Arbeitskreis für Hausmusik“ um Richard Baum und Karl Vötterle zusammen. Institutionen wie der Jugendhof Hassitz oder das Boberhaus wurden enteignet. Andere dagegen, wie das Musikheim Frankfurt/Oder, konnten ihre Tätigkeiten zunächst fortsetzen, das Musikheim Finkenkrug wurde sogar neu gegründet.
So standen die Akteure der Jugendmusikbewegung schließlich vor der Entscheidung, ob man sich aktiv am Aufbau eines nationalsozialistischen Musiklebens beteiligen oder sich bewusst abwenden sollte – oder aber, wie es sicher auch für einige zutraf, einen Weg ‚dazwischen‘ finden könnte, der eine Weiterarbeit ohne allzu tiefe ideologische Verstrickungen möglich machte. Als einen wichtigen Moment der Entscheidung beschreibt Wolfgang Stumme ein Treffen bei Fritz Jöde in Lankwitz im Frühjahr 1933, bei dem Jöde die Jüngeren zur Mitwirkung aufgefordert habe, um auf diesem Weg der Jugendmusik einen Platz zu sichern. Dies sei für ihn ein Schlüsselmoment gewesen, der ihn in die entsprechende Richtung geführt habe. Andere, wie beispielsweise Ekkehart Pfannenstiel, standen dem Nationalsozialismus bereits offen gegenüber und waren von Anfang an aus ideologischer Überzeugung beteiligt. Nicht zu vernachlässigen ist dabei auch die Nähe zu einem völkischen Denken, die manchen Vorstellungen der Jugendmusikbewegung zugrunde lag, insbesondere in der aus völkischen Tendenzen hervorgegangenen Finkensteiner Bewegung.
Gleichzeitig teilte die Jugendmusikbewegung nicht von vornherein den dezidiert politischen Impetus der nationalsozialistisch ausgerichteten Musikarbeit. So waren vielmehr persönliche Entscheidung und Ausrichtung des Einzelnen anstelle einer Gruppenorientierung oder ganzen Bewegung der relevante Faktor, der unter den Bedingungen des Nationalsozialismus zu einem Weiterleben, wenn nicht sogar einer – allerdings sehr andersgearteten – Konjunktur der Jugendmusikbewegung sorgte. Rückblickend äußerte beispielsweise der Pädagoge Heinrich von Freeden: „Ich möchte den Menschen sehen, der sich nicht in irgendeiner Weise den Zwängen nach 33 unterworfen hat, wenn er im Lande bleiben wollte oder mußte.“[*] [mehr]
Entsprechend hat die Mehrzahl der Akteure der Jugendmusikbewegung ihre Tätigkeit unter NS-Bedingungen fortgesetzt, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung. Für eine Beurteilung einer Weiterführung der Jugendmusikbewegung nach 1933 und ihres Anteils am Aufbau des NS-Musiklebens muss daher zunächst danach gefragt werden: Wer war tatsächlich aktiv und in welchen Funktionen? Einzelne Personen waren, wie erwähnt, auch aus ideologischer Überzeugung heraus tätig, manche in führenden Positionen. An diesen Personen lässt sich besonders gut nachvollziehen, welche Institutionen und Einrichtungen für die Weiterführung der Jugendmusik relevant waren. Sehr viele reklamierten im Nachhinein für sich, dass sie nur um der Musik willen weiter aktiv waren, ohne politisch-ideologischen Bezug. Dies mag wohl für manche tatsächlich zutreffen, obgleich eine ideologische Teilhabe für durchaus viele nachvollzogen werden kann. Zudem war sicherlich für die meisten in den ersten Jahren noch nicht abzusehen, wohin die Entwicklungen führen würden. Nur schwer zu verorten sind die Positionen Fritz Jödes oder Walther Hensels, die zwar beide weiter tätig waren, jedoch manche Konflikte austrugen, so wurde insbesondere Jöde mehrfach angefochten, seiner Ämter in Berlin enthoben und mit Verboten belegt. [mehr]
Institutionelle Verortung der Jugendmusik

Die jugendmusikalischen Tätigkeiten fielen weniger in den direkten Verantwortungsbereich der Reichsmusikkammer, sondern waren vorwiegend in den Organisationen der HJ und des BDM verortet und unterstanden der Reichsjugendführung (wenn auch mit Anbindungen an die Reichsmusikkammer). Im ersten Jahr übernahm zunächst der Reichsbund für Volkstum und Heimat die Zuständigkeiten, der jedoch 1934 bereits wieder aufgelöst wurde. Unter dem Dach der Reichsjugendführung bzw. der Hitlerjugend entstanden zahlreiche Sing- und Spielscharen, offene Singstunden wurden an vielerlei Orten und auch im Rundfunk abgehalten, Hausmusik wurde gefördert, Musikschulen wurden neu gegründet, Schulungen, Feiern und Reichsmusiktage fanden statt; es wurden auch eigens für die Hitlerjugend bzw. die Gestaltung von Feiern und den allgemeinen musikalischen Gebrauch neue Werke komponiert. Berührungspunkte mit der Reichsmusikkammer bestanden vor allem zur Abteilung Jugend- und Volksmusik, in die später auch die Pflegschaft Sing- und Spielkreise eingegliedert wurde, und zu den Abteilungen für Laienmusik und Hausmusik. Durch Kooperationen mit der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ erweiterte sich das Tätigkeitsspektrum auch in den Unterhaltungsbereich.
Einzelne Bereiche entwickelten sich zu besonderen Schwerpunkten: Neben dem Singen, der Stimmbildung und der Liedkunde kam nun auch eine Förderung der Blasmusik hinzu. Grundsätzlich galt auch der Instrumentalmusik Aufmerksamkeit, nicht allein dem Singen. Spätestens mit der Neugründung von Musikschulen wurde zunehmend Werbung für Instrumentalunterricht gemacht. Zunächst als Liedbegleitung, zunehmend jedoch im Sinne einer Erweiterung der musikalischen Vielfalt wurde ein gutes Niveau des Instrumentalspiels angestrebt. Als ein Ausnahmeinstrument, das aus seinem religiösen Kontext heraus als ideal zur Feiergestaltung angesehen wurde, galt die Orgel; so wurde in der Hitlerjugend auch eine eigene Orgel-Arbeitsgemeinschaft gegründet. [mehr]

Die Bedeutung des Singens reichte vom bloßen Singen beim Marschieren über zahlreiche Formate des Offenen Singens, über Singschulungen und Gesangspädagogik bis zur Verbreitung von Singscharen und Chören unterschiedlichster Niveaustufen. Wesentlich war dabei die Popularisierung eines bestimmten Repertoires: So galt es zunächst, den Schwerpunkt auf dem deutschen Liedgut den neuen ideologischen Vorstellungen entsprechend auszuloten. Dazu zählten auch zahlreiche neue Veröffentlichungen von Liedblättern und Liederbüchern. Zum Liedrepertoire hinzu kamen klassische deutsche Komponisten; radikal abgelehnt wurden hingegen neue Entwicklungen in der Unterhaltungsmusik – neben Schlagermusik war vor allem der Jazz betroffen, gegen den nicht zuletzt aus rassistischen Gründen gehetzt wurde. Oft eingesetzt wurde das Format des Offenen Singens, über das Reinhold Heyden schrieb: „Alle Zellen unseres Volkes schöpfen Kraft aus dem Offenen Singen.“[*] Fritz Jöde vertrat es ebenfalls weiterhin aktiv, auch wenn seine Tätigkeiten eingeschränkt wurden. Er entwickelte u.a. neue Pläne für ein „Müttersingen“ und war auch im Ausland (v.a. Schweden) mit Offenen Singen erfolgreich. [mehr]

Als wichtige Gruppierungen der Musikausübung erfuhren die Sing- und Spielscharen weite Verbreitung, die ebenfalls auf Vorbilder aus der Jugendmusikbewegung zurückgingen. Sie praktizierten nicht nur Singen und Instrumentalspiel, sondern auch Laienspiel und Tanz. Zugeordnet waren sie Bereichen bzw. Gauen der HJ und des BDM oder auch Institutionen wie einzelnen Rundfunksendern. Besonders die Rundfunkspielscharen traten durch ein hohes musikalisches Niveau hervor, ihnen kam teilweise eine weiträumige Konzerttätigkeit zu. Eine wichtige Aufgabe der Spielscharen war ihre Reisetätigkeit: Sie wurden in ländliche Regionen und ins Grenz- und Ausland geschickt oder begleiteten Fahrten von Kreuzfahrtschiffen; in Kriegszeiten gehörten Reisen an die Front zum Alltag. So erfüllten sie als „Sendboten“ eine wichtige Funktion innerhalb der nationalsozialistischen Musikarbeit. [mehr]
Im Sinne einer Musikalisierung der Masse und der Nutzung von Musik als Propagandamittel, aber auch der Gewährleistung von musikalischer Qualität kam der Musikerziehung und Musikpädagogik ein starkes Gewicht zu. Es entstanden Lehrgänge für Jugendmusikführer in Berlin-Charlottenburg, ähnliche Lehrgänge folgten in Weimar und Graz, ab 1942 wurden spezielle Seminare für Musikerzieher der Hitlerjugend gegründet. Für weitere musikalische Fortbildung sorgten diverse Schulungslager; dazu gehörten u.a. Reichstagungen vom Kulturamt der Reichsjugendführung, Reichsmusikschulungslager und Arbeitslager des Kultur- und Rundfunkamtes der Reichsjugendführung. Neben der Musikerziehung an neu gegründeten Musikschulen der Hitlerjugend wurde auch die Schulmusik mit neuen Konzepten bedacht. Als ein Beispiel finden sich in den Dokumenten des AdJMb Berichte zur Musikarbeit Ekkehart Pfannenstiels an den Adolf-Hitler-Schulen. [mehr]

Nach der Gleichschaltung der Musikantengilde und des Finkensteiner Bundes hatte sich, wie bereits angedeutet, der Arbeitskreis für Hausmusik um Karl Vötterle und Richard Baum neu gegründet. Er konnte allein deshalb eigenständig bestehen, weil er einige Mitglieder im Ausland hatte, die in den Reichsbund für Volkstum und Heimat nicht aufgenommen werden konnten. So bildete der Arbeitskreis für Hausmusik eine gewisse Enklave neben den ‚offiziellen‘ Organisationen der Hitlerjugend, des BdM u.a. Neben zahlreichen Singwochen und ähnlichen Veranstaltungen organisierte der Arbeitskreis für Hausmusik vor allem die Kasseler Musiktage, die 1933 bis 1939 jährlich stattfanden. [mehr]
Mit Kriegsbeginn veränderte sich zwangsläufig die Musikarbeit, die Verantwortung verlagerte sich zunehmend von der HJ auf den BDM. Außerdem wurde die kulturelle Wehrmachtsbetreuung zu einem wichtigen Standbein der musikalischen Arbeit. Insbesondere für die Kriegsmarine wurde ein weiträumiges Kulturprogramm aufgestellt, für das Herbert Just ab 1939 organisatorisch zuständig war. Für die beliebten Singveranstaltungen wurden schließlich eigene Singleiter-Schulungen eingerichtet; unter der Leitung von Gottfried Wolters wurde sogar eine Singeleiterschule der Marine in Berlin gegründet. Erstaunlicherweise wurde die Arbeit für die Wehrmacht und Kriegsmarine von manchen als eine Art Freiraum wahrgenommen, der wenig von politischen Zwängen betroffen gewesen sei. [mehr]

Waren Zeitschriften und der Rundfunk bereits vor 1933 wichtige Medien der Jugendmusikbewegung, so erhielt ihre Bedeutung nach der Machtübernahme noch mehr Gewicht. Zeitschriften dienten als zentrale Organe zur Vermittlung von Musikidealen und Propaganda, u.a. wurden hier zahlreiche Diskussionen um „hohe Musik“ versus „Volksmusik“, um die Erziehung der Jugend zur Musik oder die Bedeutung des Singens und des Volksliedes geführt; Leitartikel vermittelten Richtlinien für die Musikarbeit und sorgten für eine entsprechende ideologische Einbettung. Zahlreiche Berichte dokumentieren zudem die unterschiedlichen Aktivitäten jener Zeit. Zu den wichtigsten Titeln zählten die Zeitschriften „Musik und Volk“ (später „Musik in Jugend und Volk“), „Die Spielschar“, „Die Musik“ oder auch die „Zeitschrift für Hausmusik“. Im Hintergrund dieser Zeitschriften standen die Verlage, die sich nach 1933 für eine entsprechende Weiterarbeit entschieden hatten: Im Bereich Jugendmusik waren weiterhin der Bärenreiter-Verlag in Kassel und der Verlag Kallmeyer in Wolfenbüttel aktiv. Sie waren auch für die Herausgabe des Liedguts in verschiedenen Reihen von Liedblättern und Sammelbänden zuständig, wobei der Bärenreiter-Verlag zusätzlich noch mehr Gewicht auf alte und kirchliche Musik legte.
Schließlich wurde der Rundfunk als Medium in der NS-Zeit weiträumig genutzt. Hatte die Jugendmusikbewegung bereits um 1930 das Radio als eine Möglichkeit der aktiven Einbindung einer breiten Hörerschicht in die Musikarbeit „entdeckt“ und offene Singstunden und Sendungen für das Musizieren zuhause angeboten, so wurde nun insbesondere das Format der Offenen Singstunden im Radio weiter ausgebaut. Mit den Rundfunkspielscharen konnte ein vielfältiges Musikangebot bereitgestellt werden; eine ideologisch geprägte Musikauswahl erreichte über das Radio auch entlegenere Ort. So konnte Musik als Propagandamittel nicht zuletzt aufgrund der medialen Verbreitung in der NS-Zeit eine hohe Wirkungskraft erzielen.
(af)