Die Hauptphase der Jugendmusikbewegung
Die „klassische Zeit“ von 1918 bis 1933
Zum Begriff „Jugendmusikbewegung“
Die „klassische Zeit“ – so benennt der voluminöse Band „Die deutsche Jugendmusikbewegung in Dokumenten ihrer Zeit von den Anfängen bis 1933“, herausgegeben 1980 vom Archiv der Jugendmusikbewegung in Hamburg, die Phase der Jugendmusikbewegung bis 1933 (S. VIII). Der etwas konservativ anmutende Begriff mag irritieren, doch das, was man im engeren Sinne unter „Jugendmusikbewegung“ versteht, fällt in der Tat in die Zeit vor 1933, genauer noch: in die fünfzehn Jahre zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der großen Zäsur 1933. Nach den Anfängen der Musikpraxis im Zeichen der Jugendbewegung konstituierte sich um 1918 eine eigenständige musikpädagogische Bewegung, die unter dem Begriff „Jugendmusikbewegung“ bekannt wurde und gezielt um den Ausbau des Laienmusiklebens bemüht war – in dezidierter Ablehnung des bürgerlichen Konzertbetriebs, dem man eine konsumistische Passivität des (limitierten) Publikums ebenso vorwarf wie ein rein technisches Virtuosentum, in Ablehnung auch der musikalischen Romantik des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, deren auf Sinnesrausch und Emotion zielenden Züge man als subjektiv-individualistisch brandmarkte. Musik bzw. Musizieren sollte der Entwicklung des ganzheitlichen Menschen und der Gemeinschaftsbildung dienen und allen offenstehen.
Gelegentlich wird die Jugendmusikbewegung auch – im Grunde noch treffender – mit dem Begriff „Deutsche Musikbewegung“ belegt; verbreitete Termini wie „Singbewegung“ oder „Chorbewegung“ zielen, mit etwas unterschiedlicher Fokussierung, ebenfalls auf die Jugendmusikbewegung oder Teile davon. Das entscheidende Charakteristikum liegt darin, dass sich die Bewegung nicht mehr allein im Dienste der (bündischen) Jugendgruppen sah – also nicht mehr nur Musik in der Jugendbewegung war –, sondern auf eine Erneuerung der gesamten Musikpflege und Musikerziehung gerichtet war.
Ausgangspunkte – die Entstehung der „Musikantengilde“
Als initiierendes Moment wird immer wieder der Sammelband „Musikalische Jugendkultur“ von 1918 angeführt – eine Aufsatzsammlung, die in verschiedensten Facetten von der volksliedsingenden Wandervogel-Jugend die Ausbildung einer umfassenden musikalischen Kultur forderte. Der Herausgeber des Bandes, Fritz Jöde, kann als Hauptinitiator und Schlüsselfigur der Jugendmusikbewegung gelten.
So sehr auch in den darauffolgenden Jahren alles, was sich ereignete, von Publikationen begleitet war (wobei niemand so intensiv um schriftliche Darlegungen in Zeitschriften und Büchern bemüht war wie der „verkündigungsfreudige“[*] Jöde selbst), ist Theorie nicht das eigentliche Feld der Jugendmusikbewegung. Es handelt sich um eine weitgehend auf die Praxis, die Musikausübung, gerichtete Bewegung, deren letztes Ziel man in den vielfach wiederholten Worten Fritz Jödes benennen kann: „dass wir wieder ein singendes Volk werden“. Berühmt geworden ist der oft zitierte Ausspruch Jödes von der Ersten Reichsschulmusikwoche in Berlin 1921 („Unser Musikleben“), der in Anspielung auf Paul de Lagardes „Wir wollen Geborenes, um mit ihm zu leben“ formuliert:
„Musik ist Geborenes und will als solches nicht gekannt, gewußt und gekonnt sein, sondern will leben und gelebt werden.“[*]
Dass Musik Teil des Lebens ist und nicht bloßer Bildungsgegenstand, ist ein zentraler Gedanke Jödes und der Jugendmusikbewegung überhaupt. Angesichts dieser lebens- und musikpraktischen Orientierung fällt es etwas schwer, einer Aufsatzanthologie die Rolle der Initialzündung beizumessen. Und so wird mit einiger Berechtigung als weiterer Startpunkt der Jugendmusikbewegung ein „Aufruf“ Herman Reichenbachs gewertet, der im Frühjahr 1919 in der Zeitschrift „Die Laute“ – mit dem Untertitel „Monatsschrift zur Pflege des deutschen Liedes und guter Hausmusik“ – erschien, kurz nachdem Jöde die Herausgeberschaft dieses Periodikums für den verstorbenen Lautenisten Richard Möller übernommen hatte. Es ist ein „Aufruf“ zu tätigem Musizieren in Sing- und Musizierkreisen von Laien:
„Was uns als gegenwärtige Möglichkeit vor den Augen steht, sind Kreise von gleichgesinnten Musikfreunden, ausübenden wie hörenden, zum gemeinsamen Spiel, Streichquartett, Klavier oder Laute und andere alte Instrumente. Und vor allem: Chorsingen!“[*]
Die Zeitschrift übernahm Vermittlungsfunktion, es wurde zur Meldung unter Angabe der Adresse gebeten, um Interessierte regional zusammenführen zu können. Auf diese Weise begann das, was die kommenden Jahre prägte und als eine Säule der Jugendmusikbewegung anzusehen ist: Chöre („vor allem: Chorsingen!“) und Instrumentalkreise bildeten sich allerorten.
Eine gewisse Institutionalisierung ließ nicht lange auf sich warten: 1919 wurde in Erfurt – als Untergilde der Neudeutschen Künstlergilden – die „Neudeutsche Musikergilde“ gegründet. Ihr Obmann war Fritz Jöde, den dreiköpfigen Rat der Gilde bildeten Karl Gofferje, Herman Reichenbach und Max Schlensog. Von den Singkreisen und Musikgruppen, die sich in den folgenden Jahren im Zeichen der „Neudeutschen Musikergilde“ zusammenfanden, trugen bald viele den Namen „Musikantengilde“, ergänzt um die Ortsangabe. Der Begriff „Musikantengilde“ setzte sich im Laufe der Jahre als Bezeichnung für die ganze Bewegung rund um Fritz Jöde durch; der engere Arbeitskreis der Verantwortlichen, die Führungsriege, bezeichnete sich als „Kerngilde“. Als zweite Hauptströmung der Jugendmusikbewegung gilt die etwas später entstandene Finkensteiner Bewegung um Walther Hensel, der sich jedoch – unter seinem eigentlichen Namen Julius Janiczek – zunächst einmal auf den Aufruf Reichenbachs bei der Zeitschrift „Die Laute“ meldete: Auf der Liste „Musikgruppen der Laute“ ist Julius Janiczek in Prag angeführt.[*]
Die Zeitschrift „Die Laute“ änderte – ihrer umfassenderen Zielrichtung gemäß – 1922 ihren Namen in „Musikantengilde“, Musikbeilagen (z.B. „Die Hausmusik“) und zahlreiche eigenständige Noten-Editionen zielten auf die Verbreitung geeigneten Lied- und Musizierguts. Jöde arbeitete von Anfang an mit dem Julius Zwißler-Verlag (später Kallmeyer-Verlag) in Wolfenbüttel zusammen. In Georg Kallmeyer, der 1916 den Zwißler-Verlag allein übernahm und ihn ab 1925 unter dem eigenen Namen weiterführte, fanden Jöde und die Musikantengilde einen engagierten Mitstreiter, der seinen Verlag weitgehend in den Dienst der Jugendmusikbewegung stellte.
Um den Schriftverkehr zwischen Zeitschrift („Laute“ bzw. „Musikantengilde“) und Lesern bzw. die Verbindung zwischen den lokalen Musikgruppen sicherzustellen, gründete man schon 1921 ein sogenanntes „Arbeitsamt“ (im Grunde ein Sekretariat), das in Stuttgart von Willi Siegele geführt wurde. 1926 wurde das „Arbeitsamt“ der Musikantengilde in Berlin unter Leitung von Fritz Reusch neu aufgestellt und von der engen Bindung an die Zeitschrift gelöst. Das Aufgabenfeld hatte sich inzwischen erheblich erweitert: Die gesamte Koordination der Arbeit vom Austausch der Musikgruppen untereinander bis zur Organisation von Tagungen und Schulungen, von Sing- und Musizierwochen oder Vorträgen, sowie allgemeine Beratungstätigkeiten und Presseangelegenheiten fielen in den Zuständigkeitsbereich des Arbeitsamtes jener erheblich gewachsenen Institution, zu der die „Musikantengilde“ im Laufe weniger Jahre geworden war.
„Und vor allem: Chorsingen!“ – Chöre und Alte Musik
Eine zentrale Bedeutung für das Repertoire der zeitgenössischen Chöre hatte die 1921 von Jöde im Zwißler-Verlag herausgegebene Sammlung „Alte Madrigale“ – eine der Pionierpublikationen, mit denen das Augenmerk wieder auf die polyphone Musik des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts gerichtet wurde. Die Vokalpolyphonie wurde zum chorischen Ideal der Jugendmusikbewegung. Im Vorwort der „Madrigale“ findet sich das Leitbild gleichberechtigter Stimmen in Abkehr vom Chorsatz des 19. Jahrhunderts klar formuliert:
„Es mehren sich die Zeichen dafür, daß der A capella-Gesang [sic] unserer Zeit der Chorkunst des vorigen Jahrhunderts mit ihrer nicht enden wollenden Senkrechten müde zu werden beginnt und nach Anderem Verlangen trägt als nach ihrer ausschließlich harmonisch gedachten Schreibweise, die, analog der Musikentwicklung im Ganzen, der Oberstimme allein die Führung und damit den eigentlichen musikalischen Gehalt anvertraute, alle übrigen Stimmen aber zu Größen minderen Grades degradierte. Es ist darum kein Wunder, daß man sich nach und nach immer mehr der Blütezeit der A capella-Kunst, vor allem also den Chor-Werken des 16. Jahrhunderts, wieder zuwendet, die in ihrer polyphonen Schreibweise bis heute am ausgeprägtesten und reinsten das Beieinander mehrerer ihrem Wesen nach gleichwertiger Stimmen in ihren Madrigalen verkörpert [...]“[*]
Zahlreiche Editionen alter Chorwerke entstanden in der Folge. Auch der Kanon, der in der absoluten Gleichberechtigung der Stimmen als Inbegriff der polyphonen Setzweise gelten kann, erlebte eine Aufwertung. Wieder wurde hier Jöde zum wichtigen Impulsgeber: Er stellte mit seiner Sammlung „Der Kanon“ eine vielbeachtete bzw. -verwendete Ausgabe zur Verfügung (1. Band 1925, Gesamtausgabe 1926).
Die vielen Chöre, die zu Beginn der 1920er Jahre gegründet wurden und teils umfangreich dokumentiert sind, lohnen einen genaueren Blick. Etliche von ihnen haben ihre Wurzeln noch in Wandervogelkreisen. Zu den bedeutendsten Chorgemeinschaften zählte beispielsweise die „Märkische Spielgemeinde“, ein 1921 im Rahmen des Alt-Wandervogels in Berlin gegründeter gemischter Chor, der von Georg Götsch geleitet wurde (späterer Name: „Deutscher Singkreis“). Das intensive Gemeinschaftsleben verband sich auch mit Auslandsreisen, wie es für etliche ambitionierte Chöre der Musikantengilde kennzeichnend wurde: Drei große Chorfahrten führten die „Märkische Spielgemeinde“ insbesondere nach Norwegen (1925), England (1926) und Holland (1927). Regelrechte „Fahrten-Chöre“ bildeten sich im studentischen Milieu, die sich zum Teil ortsübergreifend zu Probenphasen zusammenfanden und in jugendbewegtem Stil auf „Singfahrten“ ins In- und Ausland begaben: Zu nennen wären hier etwa die Akademische Vereinigung Marburg, der Bach-Kreis Tübinger Studenten, der Bach-Kreis Göttinger Studenten, der Madrigalkreis Hamburg-Tübingen oder der Heinrich-Schütz-Kreis. Schon die Namen etlicher Kreise lassen erkennen, dass im Chor-Repertoire die Alte Musik eine große Rolle zu spielen begann, vieles war hier neu zu entdecken. Die rückblickende Schilderung Annemarie Blankenburgs (Ehefrau von Walter Blankenburg) zum Bach-Kreis Göttinger Studenten beleuchtet exemplarisch die Atmosphäre, die diese Entdeckungen begleitete:
„Damals, in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre, war Göttingen noch eine stille kleine Universitätsstadt, es gab noch keinen Straßenlärm. Und so konnte es sich dieser kleine Chor leisten, wie frühere Kurrende-Knaben, auf den Straßen zu singen. Etwas vollkommen Neues: Bachmusik auf der Straße! Als sie in einer Adventszeit den fünf-stimmigen fugweis gesetzten Bach-Choral ‚Vom Himmel hoch, da komm ich her...‘ im Licht einer Straßen-Laterne anstimmten, hörte das der Musikwissenschaftler Heinrich Besseler (später als Professor in Freiburg, Heidelberg, Leipzig) und stürzte auf die Straße, um die Menschen zu sehen, die diese Musik kannten und praktizierten und schloß sich ihnen von da an oftmals an.“[*]
Einige noch heute existierende Chöre können ihre Geschichte bis zur Musikantengilde zurückverfolgen: So ging etwa die Stadtkantorei Celle aus der Celler Musikantengilde, gegründet 1923, hervor. Auch der erste Leiter der Celler Musikantengilde, Fritz Schmidt, ist ein Beispiel für einen Chorleiter, der sich um Alte Musik verdient machte – mit dem Zweiten Schütz-Fest fand 1929 in Celle eine markante Etappe der maßgeblich von der Jugendmusikbewegung getragenen Wiederentdeckung der Musik von Heinrich Schütz statt. Ein führender Kopf der Schütz-Renaissance war der spätere Philosoph Wilhelm Kamlah, Mitglied im Bach-Kreis Göttinger Studenten und Begründer des Heinrich Schütz-Kreises, der seine (ebenfalls studentischen) Mitglieder aus allen Teilen Deutschlands zu Probenphasen zusammenholte. Kamlah erstellte um 1930 mehrere Editionen von Schütz-Werken (Bärenreiter-Verlag, ab 1928).
Heinrich Schütz: „Ich bin ein rechter Weinstock“
Musikwissenschaft und Instrumentenbau
Gerade in der Wendung zur Alten Musik ergaben sich intensive Berührungspunkte zwischen Jugendmusikbewegung und Musikwissenschaft. Eine wichtige Persönlichkeit in dieser Vernetzung war der Freiburger Musikwissenschaftsprofessor Wilibald Gurlitt, bei dem Akteure der Jugendmusikbewegung wie Hilmar Höckner, Herman Reichenbach, Konrad Ameln, Wilhelm Ehmann und Walter Blankenburg studierten. Gurlitt selbst und Musikwissenschaftler wie Hans Mersmann und Friedrich Blume beteiligten sich auch als Referenten an Veranstaltungen der Jugendmusikbewegung, so etwa an den Reichsführerwochen 1926 und 1927. Gurlitt engagierte sich führend in der sogenannten „Orgelbewegung“ (auch Orgelerneuerungsbewegung): Nach historischen Dokumenten – nämlich der 1619 gedruckten Schrift „De Organographia“ von Michael Praetorius – ließ er 1921 durch den Ludwigsburger Orgelbauer Oscar Walcker die „Praetorius-Orgel“ für das Musikwissenschaftliche Seminar der Universität bauen und initiierte damit die Rückkehr zur Barock-Orgel. Die auf Betreiben des Organisten Max Drischner erfolgte Restaurierung der großen Engler-Orgel der Brieger Nikolaikirche (1926-1928) zählte zu den Vorzeigeprojekten der Orgelbewegung. Im Streben nach Transparenz kehrte man der romantischen Orgel den Rücken und entdeckte Klangcharakter und Repertoire des 16. und 17. Jahrhunderts wieder.
Auch für den Blockflötennachbau lieferte Gurlitt Impulse. Über Wilibald Gurlitt lernte der Instrumentenbauer Peter Harlan die – seit der Barockzeit weitgehend in Vergessenheit geratene – Blockflöte kennen und begann mit ersten Nachbauten. Harlan wurde in Deutschland zu einer zentralen Figur der „Blockflötenbewegung“, in der sich das Interesse an historischer Aufführungspraxis mit der Bemühung um die Verbreitung eines gemeinschaftsfördernden Instrumentes im Sinne der Jugendmusikbewegung vereinte. Mit dem Namen Harlans ist die Entwicklung der sogenannten „deutschen Griffweise“ (im Gegensatz zur barocken bzw. englischen Griffweise) verbunden, einer vereinfachten, aber mit Intonationsdefiziten bezahlten Griffweise, die ohne die für den Anfänger schwierigeren Gabelgriffe auskommt. Sie trat ab 1926 mit der „Bärenreiter-Flöte“ den Siegeszug an. Harlan selbst, der vor allen Dingen Streich- und Tasteninstrumente baute, hielt allerdings die Entwicklung seiner „Fidel“ für seine wichtigste Errungenschaft. Die Pflege Alter Musik beförderte insgesamt den Neu- und Nachbau alter Streich- und Saiteninstrumente wie Gamben, Spinette, Cembali und Klavichorde, auch barocke Blasinstrumente wurden rekonstruiert. Die Entwicklung und Verbreitung der Instrumente wurde maßgeblich von drei Faktoren bestimmt: dem neuen Klangideal eines transparenten, präzisen, fast unpersönlichen (also nicht romantisch-individualistischen) Klangs, dem Gedanken der Werktreue im Umgang mit Alter Musik und schließlich der Nutzbarkeit der Instrumente in der musikalischen Breitenarbeit.
Schulmusik – Musikunterricht statt Schulsingen
In ihrem Bestreben, musikalische Erfahrung in der Gesellschaft breit zu verankern, richtete die Jugendmusikbewegung besondere Aufmerksamkeit auf die Schulmusik. Sie wurde zu einem zentralen Wirkungsbereich. Der herkömmliche Musikunterricht, das bloße Schulsingen, konnte nicht mehr genügen auf dem Weg zu einer umfassenderen musikalischen Betätigung und Bildung. Die Reflexion über Veränderungen im Musikunterricht war in der frühen Phase stark durch August Halm beeinflusst, der bis 1910 und dann noch einmal ab 1920 in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf als Musiklehrer tätig war und dort ein Musikleben aufbaute, das große Beachtung fand: Wickersdorf mit seinem „Kultus der Musik“ (Gustav Wyneken) galt als „Kulturinsel im alles überflutenden, industrialisierten Musikbetrieb der Gegenwart“[*]. Ein hoher Anspruch im schulischen Musizieren verband sich mit einer intensiven, kenntnisreichen Durchdringung von Meisterwerken (besonders Bach und Bruckner). Die Musik besaß in Wickersdorf einen zentralen Stellenwert und war konstitutiv für die Gemeinschaft der Schüler und Lehrer, die die Schulgemeinde bildeten.
Dem Programm einer ersten überregionalen Tagung, der „1. Musikpädagogischen Woche“ an der Dürerschule in Hochwaldhausen, ist die starke Orientierung an Halm abzuspüren. Hauptinitiator dieser Veranstaltung 1919 war Hilmar Höckner (geb. 1891), damals junger Musiklehrer der kurz darauf wegen eines eklatanten Falls sexuellen Missbrauchs durch den Schulleiter geschlossenen Dürerschule und bald einer der führenden Vertreter der Jugendmusikbewegung. Höckner selbst war stark durch Halm beeinflusst; er übernahm auch dessen ausgeprägte Schwerpunktsetzung auf Instrumentalmusik, die sonst nicht kennzeichnend war für die Jugendmusikbewegung.
In den Leitsätzen einer Arbeitsgemeinschaft, die sich durch die „1. Musikpädagogische Woche“ zusammenfand und der auch Fritz Jöde angehörte, wird die zentrale Rolle der Schule bei der „Schaffung einer musikalischen Volkskultur“ deutlich: Sie habe den „Hauptanteil an der Lösung dieser Aufgabe“, als „Bewahrerin, Vermittlerin, Schöpferin geistiger Werte“. Weiter heißt es, in deutlich reformpädagogischem Duktus:
„Die Schule in ihrer bisherigen Form, mit ihrer Überschätzung stofflichen Wissens kann die Aufgabe nicht lösen; mit allen Kräften anzustreben ist ihre Umwandlung in eine Lebensgemeinschaft (Schulgemeinde), in der Lehrer und Schüler, durch das Band der Kameradschaftlichkeit zusammengehalten, gemeinsam nach einer neuen Wertung und Auswahl der Bildungsstoffe arbeiten und zum Erlebnis kultureller Werte gelangen.“[*]
In der angestrebten „neuen Schule“ durchdringen sich Kultur und Gemeinschaft: „Lehrer, Eltern, Schüler und Freunde der neuen Schule sollen auf Grund gemeinsamer aktiver Kulturgewinnung zu gemeinsamer Arbeit und geisterfüllter Geselligkeit zusammentreten“. Um die „neue musikalische Kultur“ in übergreifender Arbeit umzusetzen, vereinbarte man eine Zusammenarbeit in Arbeitsgemeinschaften – deutlich zeigt sich auch hier das Bedürfnis nach Vernetzung und Kooperation als Grundlage weitreichender Änderungen. Eine rigorose Werteorientierung, wie sie in der Jugendmusikbewegung typisch wurde, dokumentiert sich bereits in Leitsätzen wie dem folgenden: „Man boykottiere Musikalienhandlungen, die auf erfolgten Hinweis dennoch musikalischen Schund und Kitsch im Schaufenster auslegen und kaufe nur bei Musikalienhändlern, die die Erkenntnis und Anerkennung geistiger Werte in ihrem Geschäftsgebaren zum Ausdruck bringen.“[*]
Für die Gestaltung eines schulischen Musiklebens im skizzierten Sinne bot zweifellos das Internats- und Gemeinschaftsleben die günstigsten Voraussetzungen, und es ist kein Zufall, dass sich besonders in einigen Internaten eine überdurchschnittliche „musikalische Kultur“ im Sinne der Jugendmusikbewegung herausbildete, etwa an der Biebersteiner Lietz-Schule, wo Hilmar Höckner ab 1923 wirkte, oder an der von Martin Luserke 1925 gegründeten „Schule am Meer“ auf Juist, deren Musikarbeit durch den Musiker und Komponisten Eduard Zuckmayer geprägte wurde. Besonders intensiv dokumentiert ist das Musikleben an den Deutschen Landerziehungsheimen (Hermann Lietz-Schulen). Höckners enorm umfangreiche Korrespondenz- und Materialsammlung im Nachlass beleuchtet detailreich seine Arbeit, als deren Höhepunkt die Zusammenarbeit mit Paul Hindemith gelten kann: Für das Biebersteiner Schulorchester schrieb Paul Hindemith Mitte der 1920er Jahre auf Betreiben Höckners seine ersten Werke für Laien (Näheres zur Zusammenarbeit mit Hindemith im Kapitel zu den Reichstagungen der Musikantengilde).
Die Neuausrichtung des Musikunterrichts beleuchtet exemplarisch auch der Nachlass des Hamburger Lehrers Hermann Schütt. Schütt war ab 1917 an der Winterhuder Realschule am Stadtpark tätig, aus der 1920 die reformpädagogische „Lichtwarkschule“ wurde. „Wir wollen ja nun eine deutsche Kulturschule aufbauen. Damit übernimmt der Lehrkörper die Verpflichtung, die so arg mißhandelte Musik in ihre Rechte einzusetzen, sie zu einem wichtigen Faktor im Schulleben auszugestalten“ – mit diesen Worten umreißt Schütt in einer handschriftlich überlieferten Abhandlung „Zur Musikpflege in unserer Schule“ aus der Frühzeit der Lichtwarkschule die einzuschlagende Richtung.[*] Und entsprechend den neuen pädagogischen Zielen der Jugendmusikbewegung formulierte er: „Ich fasse nun den Klassenunterricht nicht als Nur-Gesangsunterricht auf, Musikunterricht wäre richtiger gesagt!“ – ein Musikunterricht, der ebenso ältere polyphone Musik wie zeitgenössische Musik umfasste.
Waren die schulischen Entwicklungen auch stark von einzelnen Lehrerpersönlichkeiten geprägt, liefen doch übergreifende und schließlich institutionelle Veränderungen mit, die den schulischen Unterricht als Ganzes betrafen. Erneut war es hier Fritz Jöde, der überregional Impulse setzte: Jödes Schulliederbuch „Der Musikant“, das in Einzelteilen ab 1922 erschien und 1924 zu einem Band zusammengefasst wurde, zählt zu den wichtigsten Publikationen der Jugendmusikbewegung und ist ein Markstein auf dem Weg zu einem schulischen Musikunterricht, der ein breites musikalisches Spektrum vom Kinderlied bis zu Johann Sebastian Bach berücksichtigt und sich nicht auf das Einüben eines überkommenen Liedrepertoires im Alltagsrahmen beschränkt. Im Vorwort umreißt Jöde die Anlage des Bandes, der
„einen gänzlich neuen Stoff [bietet], der vom gespielten und getanzten Volkskinderliede ausgeht und über das neue Volkslied und die Liedermeister des 18. und 19. Jahrhunderts zu dem von der musizierenden Jugend erst wieder wirklich erschlossenen älteren Volksliede führt. Nachdem er dann ein erstes Erarbeiten der Meister des polyphonen Satzes, der Kunst Heinrich Schützens, Haydns, Mozarts, Beethovens und anderer ermöglicht hat, schließt er mit Gesängen Johann Sebastian Bachs.“
Bemerkenswert sind die Bedeutung des polyphonen Singens in diesem Schulliederbuch und die zentrale Position des Kanons, den der Band „als den eigentlichen Wegbereiter zu einem lebendigen mehrstimmigen Gesange aus seinem Schattendasein in das Gebiet der Kunst“ zurückführe. Die Edition ist darauf ausgerichtet, dass „ein wirkliches Kulturgut über die Schulmauern hinaus Einfluß auf Haus und Leben gewinne.“[*] Der Stellenwert dieses Schulliederbuchs dokumentiert sich in einer aus heutiger Sicht erstaunlichen Äußerung Albert Küsters von 1924:
„Was zur Reformationszeit Luthers Katechismus war, das ist uns heute Jödes Musikant, nämlich der Weg zur Musik.“[*]
Ein Jahr nach dem Erscheinen des „Musikanten“ wurde Fritz Jöde von Leo Kestenberg, Referent für Musik im Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, nach Berlin berufen. Kestenberg hatte in seiner Programmschrift „Musikerziehung und Musikpflege“ einen umfassenden, reformorientierten Bildungsgesamtplan vorgelegt, der vom Kindergarten bis zur Hochschule und in alle Formen der Musikerziehung und -pflege hineinreichte – mit dem Anspruch, Musik zum wichtigen, humanitätsstiftenden Baustein der Persönlichkeitsbildung werden zu lassen. Für Kestenberg besaß die Lehrerbildung oberste Priorität, in ihr sah er den Hebel zu einer Aufwertung des bisherigen Schulsingens zu einem wirklichen Musikunterricht, und zugleich auch zu einer Aufwertung des Musiklehrer-Status. Kestenberg begründete 1922 die als Modell angelegte „Staatliche Akademie für Kirchen- und Schulmusik“ in Berlin Charlottenburg (hervorgegangen aus dem Institut für Kirchenmusik), es folgten etliche „Pädagogische Akademien“ und entsprechende Institute. Die Reformgedanken Kestenbergs wurden in eine Fülle von Regelungen, Erlassen, Bestimmungen und Richtlinien in den verschiedensten Bereichen überführt, deren Realisierung allerdings nicht immer vollumfänglich gelang. Ein wichtiges Forum zur Verbreitung der Reformideen waren die acht in den 1920er Jahren durchgeführten „Reichsschulmusikwochen“, die das „Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht“ durchführte, in dem Kestenberg die Musikabteilung leitete. Sie sollten die Reform des schulischen Musikunterrichts begleiten, die ihren Ausgangspunkt in der verbesserten Lehrerausbildung besaß.
Fritz Jöde nahm bereits an der ersten Reichsschulmusikwoche 1921 in Berlin teil (hier prägte er den oben bereits zitierten Satz „Musik ist Geborenes und will als solches nicht gekannt, gewußt und gekonnt sein, sondern will leben und gelebt werden“). In ihrem Bestreben, den schulischen Musikunterricht zu reformieren, ebenso wie in ihrem Verständnis der persönlichkeitsbildenden, humanitätsstiftenden und so auch zutiefst gesellschaftsrelevanten Bedeutung von Musik, begegneten sich der reformorientierte Musiker und Kulturpolitiker Kestenberg und der ebenso idealistische wie pragmatische Musikpädagoge Fritz Jöde. Von Kestenberg stammt eine prägnante Charakterisierung Jödes, die deutlich macht, warum er Jöde 1923 nach Berlin holte:
„Wer war Fritz Jöde? Ein musischer und künstlerischer Mensch, jung, tatenlustig, energisch, musikalisch und musikantisch begabt – man mußte ihn sofort gern haben! Er begann als Volksschullehrer, widmete sich dann musikwissenschaftlichen Studien, und er war schon damals bekannt als einer der wichtigsten Führer der musikalischen Jugendbewegung. Ich konnte nunmehr dem Minister die Berufung von Fritz Jöde als Professor mit um so besserem Gewissen empfehlen, als ich davon überzeugt war, daß er für die Akademie den entscheidenden Erziehungsfaktor bedeuten würde. Von ihm würden die Anregungen und Impulse ausgehen, welche der musikalischen Jugenderziehung einen bleibenden und charakteristischen Stempel aufdrücken würden. Jöde selbst war voller Pläne und Ideen, eine organisatorisch ungemein erfindungsreiche, aktive Persönlichkeit, die im Laufe ihres Wirkens an der Akademie die verschiedensten Formen für sein ‚Seminar für Volks- und Jugendmusik‘ im Schloß Charlottenburg, welches der Akademie angegliedert wurde, entwickelte.“[*]
Jöde unterrichtete in der Charlottenburger Akademie angehende und sich fortbildende Volksschullehrer, leitete die mit der Akademie verbundene Jugendmusikschule in Charlottenburg, förderte die Ausbildung von Volksmusikschullehrern und baute das 1930 eröffnete „Seminar für Volks- und Jugendmusikpflege“ auf, in dem sich Volksschullehrer, Privatmusiklehrer oder auch Kindergärtnerinnen musikalisch und pädagogisch fortbilden konnten. Zahlreiche Musikpädagogen studierten im Rahmen von – oft einjährigen – Fortbildungslehrgängen bei Jöde in Berlin und wurden so für die Bewegung gewonnen.
Zu einer wichtigen Institution für die Lehrerbildung wurde auch das 1929 eröffnete Musikheim Frankfurt/Oder, das auf eine Initiative von Georg Götsch zurückging und von diesem im Sinne der Jugendmusikbewegung geleitet wurde. Der preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker, der die Reformideen Kestenbergs breit unterstützte, ließ diesem der musischen Bildung gewidmeten Neubau großzügige staatliche Förderung zuteil werden, die das Musikheim überhaupt erst ermöglichte. Die staatliche Unterstützung verband sich mit der Auflage, sechs Monate des Jahres Weiterbildungskurse für preußische Volksschullehrer anzubieten.
Die in diesen Jahren erheblich erweiterten Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten für Musiklehrer wurden ergänzt durch Publikationen und Zeitschriften (beispielsweise „Musik und Schule“, herausgegeben vom Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht Berlin), die die Reformprozesse im Schulmusiksektor begleiteten.
Außerschulische musikalische Bildung – „Musikschulen für Jugend und Volk“
Auch die außerschulische Musikerziehung stand im Fokus der Jugendmusikbewegung. Es wurden Angebote entwickelt, die sowohl parallel zum Schulbesuch als auch nachschulisch von älteren Interessenten in Anspruch genommen werden konnten. Die Einrichtung von Jugend- und Volksmusikschulen als Säulen der außerschulischen musikalischen Bildung ist eine Haupterrungenschaft der Jugendmusikbewegung. Maßgeblich war hier Jödes programmatische Schrift „Musikschulen für Jugend und Volk. Ein Gebot der Stunde“ (1924), die das bezeichnende Motto trug: „Auf dass Musik und Volk wieder zueinander finden!“. Die beiden frühesten Gründungen stehen auch in unmittelbarem Zusammenhang mit Fritz Jöde: Bevor er Hamburg verließ, hatte Jöde hier schon die Eröffnung der ersten Volksmusikschule vorbereitet, die am 1. Mai 1923 in seiner Abwesenheit erfolgte (Schulleiter wurde Armin Clasen). An der Volksmusikschule Hamburg (Wallstr. 22) lehrten Musiker und Musikpädagogen wie Erwin Lendvai, Hermann Schütt, Edith Weiss-Mann, Walter Kraft, Engelhard Barthe und Heinrich Schumann.
Von Kestenberg nach Berlin berufen, trat Jöde seine Professur an der Staatlichen Akademie für Kirchen- und Schulmusik an und gründete schon am 23. Mai 1923 die der Akademie angeschlossene Jugendmusikschule in Berlin Charlottenburg – sie sollte, wie die Akademie selbst, Modellcharakter besitzen und ein „Musterbeispiel einer Musikschule für die Schuljugend“[*] sein. Zugleich sollte sie den Akademie-Studenten Erfahrungsmöglichkeiten bieten. Begabte Kinder aus verschiedenen Berliner Volksschulen wurden hier zum Unterricht zusammenzogen. Schulgeld wurde nicht erhoben, wirtschaftliche Erwägungen sollten keine Rolle spielen. Unter den Lehrern fanden sich neben Jöde bald Musikpädagogen wie Ernst Pätzold, Walter Rein, Helmut Weiss und Waldemar Woehl. Die Charlottenburger „Muster“-Musikschule, die auch bereits einen Musik-Kindergarten umfasste, ging über bloßen Musikunterricht weit hinaus und wollte den Kindern und Jugendlichen „Lebensstätte“ (Jöde) sein. Man zelebrierte ein reges Gemeinschaftsleben mit Nestabenden, Festen, Ausflügen und Fahrten, das gut dokumentiert ist.
Weitere Musikschulgründungen, die zu den frühesten überhaupt zählten, folgten in der Hauptstadt: 1925 wurde in Berlin Charlottenburg, in den Räumen der Königin-Luisen-Schule (Danckelmannstraße), die „Volksmusikschule der Musikantengilde Berlin“ eröffnet, in der Herman Reichenbach federführend wurde. Sie richtete sich an Schüler ab 15 Jahre – also „schulentlassene“ Jugendliche und Erwachsene – und verstand sich nicht als „Schule“, sondern als „Pflegestätte der Kunst überhaupt“, wofür sie den erforderlichen Unterricht erteilte.[*] In den Räumlichkeiten dieser Schule fand am 11. Juni 1926 die erste Offene Singstunde Fritz Jödes statt. Im Arbeiterviertel Berlin-Neukölln wurde 1926 eine weitere Volksmusikschule gegründet, die unter der Leitung von Ernst Lothar von Knorr stand (schon ab 1925 bestand hier eine Zweigstelle der Charlottenburger Musikschule, und die Dozenten arbeiteten auch weiterhin schulübergreifend). Diese Einrichtung erlangte dadurch besondere Berühmtheit, dass Paul Hindemith sich 1930 unentgeltlich in das Kollegium einreihte, nachdem er 1927 als Professor an die Berliner Musikhochschule berufen worden war (heute trägt die Neuköllner Musikschule auch den Namen ihres berühmtesten Lehrers).
Die Zahl der Musikschulen wuchs in den ersten Jahren stetig. Die im Zeichen der Jugendmusikbewegung gegründeten Musikschulen spiegelten die Vorstellungen der Bewegung deutlich wider: Als Kern der Schule wurden jeweils die Singkreise betrachtet, das Singen stand weiterhin im Vordergrund. Kennzeichnend waren die enge Verbindung von Gesangs- und Instrumentalstunden und die Kombination des Musikunterrichts mit gemeinsamer Musikausübung; die Teilnahme an Chor- und Musiziergruppen war neben dem Instrumentalunterricht in der Regel verbindlich („Und es gibt keine Spielleute bei uns, die nicht gleichzeitig Sänger sind“, schreibt Jöde über die Jugendmusikschule in Charlottenburg). Der Instrumentalunterricht, dem schon Singerfahrung vorausgehen sollte, war –im Gegensatz zum traditionellen Klavierunterricht mit bürgerlichem Bildungsanspruch – nicht primär auf die technische Beherrschung des Instruments gerichtet. Das Erlernen der Technik sollte vielmehr erst auf dem Boden des Erlebens und Verstehens von Musik erfolgen. Das Klavier selbst, fast schon ein Symbol bürgerlicher Musikpraxis und Konzertinstrument par excellence, trat in seiner Bedeutung hinter Instrumenten zurück, die eher zum Zusammenspiel taugten. Laute, Gitarre und Streichinstrumente – besonders die Violine – setzten sich durch, einen besonderen Siegeszug trat unter den ebenfalls propagierten Holzblasinstrumenten die Blockflöte an. Als konstitutiver Bestandteil des Unterrichts war auch eine Beschäftigung mit musiktheoretischen und musikgeschichtlichen Fragen vorgesehen, was eine umfassendere musikalische Bildung sicherstellen sollte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der immer wieder begegnende Begriff des „tätigen Musikhörens“ als Unterrichtsgegenstand bzw. -ziel. In der Regel wurde auch Volkstanz gepflegt, sei es im Rahmen der Singstunden, sei es in separaten Kursen. Das Schulgeld sollte grundsätzlich kein Ausschlusskriterium darstellen, man bemühte sich darum, Freistellen für bedürftige Schüler zu schaffen – ganz im Sinne des Leitgedankens, musikalische Betätigung möglichst weit in die Gesellschaft hineinzutragen.
Zur Verbreitung der Jugendmusikbewegung
Mit Jödes Wirken in Berlin wurde die Hauptstadt zum Zentrum der Jugendmusikbewegung, hier waren im Umfeld der Musikantengilde in diesen Jahren Persönlichkeiten wie Fritz Reusch, Ekkehart Pfannenstiel, Herman Reichenbach und Georg Götsch tätig. In der Hauptstadt begründete Fritz Jöde 1926 auch eines der schlagkräftigsten Formate der öffentlichen Musikpflege, das schnell Verbreitung fand: das Offene Singen, bei dem jedem Singwilligen, ganz unabhängig von seinen Fähigkeiten und ohne über den Moment hinausgehende Verpflichtung, die Gelegenheit zum Singen gegeben wurde. Im Berlin der Goldenen Zwanziger Jahre, einer pulsierenden Metropole mit vielfältigen Freizeitangeboten, mit Sportspektakeln, rasch expandierenden Kinos, Theatern und schillernden Revuen, bildete die Jugendmusikbewegung eine kleine, bodenständige und gleichwohl sich mit hohem Anspruch verbindende Facette des reichen Kulturlebens, in enger Verbindung mit bildungspolitischen Neuansätzen der Weimarer Republik.
Durch personelle und institutionelle Vernetzungen und über Publikationen verbreiteten sich die Ideen der Jugendmusikbewegung rasch. Auch Jödes Fortbildungstätigkeit in Berlin spielte hier eine wichtige Rolle, da durch sie zahlreiche engagierte Musikpädagogen, die für eine einjährige Weiterbildung von ihren jeweiligen Schulbehörden freigestellt waren, für die Bewegung begeistert werden konnten. Der überregionale Austausch unter den Akteuren wurde von Beginn an sehr bewusst befördert: So fand auch bereits im August 1924 die erste „Reichstagung der Musikantengilden“ auf Burg Lobeda bei Jena statt. Weitere Tagungen dieser Art wurden im Jahresrhythmus abgehalten und lieferten wichtige, weitreichende Impulse – nicht zuletzt auch die Veranstaltung in Brieselang (bei Berlin) 1926 in ihrer Ausrichtung auf die Neue Musik, die dann bei den beiden Tagungen in Lichtental (Baden-Baden) 1927 und 1928 noch vertieft wurde, jeweils auch unter Mitarbeit von Paul Hindemith.
Die Vorstellung einer von Berlin ins Reich ausstrahlenden Bewegung ist jedoch nur zum Teil richtig. Maßgebliche Impulse mit teilweise ganz eigenen Ursprüngen kamen auch aus anderen Regionen und steuerten der Jugendmusikbewegung noch weitere Facetten bei, die in dieser auf die Hauptlinien beschränkten Darstellung kaum angerissen werden können. Auch sie werden jedoch in einigen Dokumenten des Archivs greifbar. Zu nennen wäre hier beispielsweise die Lobeda-Bewegung, 1928 auf Burg Lobeda (Thüringen) gegründet und maßgeblich getragen von dem Hamburger Musikpädagogen Carl Hannemann, der Ideen der Jugendmusikbewegung im Rahmen des DHV (Deutschnationaler Handlungsgehilfen Verband) umsetzte und eine umtriebige Männerchorarbeit unter Einbeziehung von Volksinstrumenten (wie z.B. der von der Jugendmusikbewegung ansonsten verpönten Ziehharmonika) betrieb. Die katholische Jugendbewegung des Quickborn wiederum pflegte in der Volksbildungsstätte „Heimgarten“ in Neisse (Oberschlesien) in den 1920er Jahren ein reiches Musikleben. Dort war auch Quickborn- und Heimgartenmitbegründer Klemens Neumann tätig, der Herausgeber des verbreiteten Liederbuchs „Der Spielmann“. Besonders über den in der Quickborn-Bewegung beheimateten, in Süddeutschland tätigen Musikpädagogen Felix Messerschmid, der im Quickborn-Arbeitskreis auf Burg Rothenfels (Main) in engem Austausch mit Romano Guardini stand, kam es zu einer Verbindung zwischen katholischer Kirche und Jugendmusikbewegung.
Aus dem sudetenländischen Raum heraus entwickelte sich eine Bewegung, die so groß und bedeutsam wurde, dass sie neben der Musikantengilde als zweite Hauptströmung der Jugendmusikbewegung gilt und genauer betrachtet werden soll: die von Walther Hensel begründete Finkensteiner Bewegung.
Die Finkensteiner Bewegung
Das Jahr, in dem Jöde seine Berliner Professur antrat und die ersten Musikschulen in Hamburg und Berlin eröffnet wurden, markiert noch ein weiteres, überaus wichtiges Ereignis der Jugendmusikbewegung, das von Jöde und der Musikantengilde wegführt: In Finkenstein (bei Mährisch Trübau) fand mit etwa 80 überwiegend sudetendeutschen Teilnehmern im Juli 1923 die erste „Singwoche“ statt, geleitet von Walther Hensel, der einige Jahre zuvor – noch vor der Germanisierung seines Geburtsnamen Julius Janiczek – auf den Aufruf in der Zeitschrift „Laute“ reagiert und eine Lautengruppe in Prag gemeldet hatte. Nun ging Hensel jedoch, zusammen mit seiner Frau Olga als Stimmbildnerin, eigene Wege. Es war eine gänzlich neue Idee, Teilnehmer zu einer auf das gemeinsame Singen konzentrierten Arbeitswoche zusammenzuführen. Die „Ursingwoche“ in Finkenstein, vom reichsdeutschen Teilnehmer Karl Vötterle noch Jahrzehnte später als „eine Art Pfingsterlebnis“[*] beschrieben, wurde namensgebend für die „Finkensteiner Bewegung“, die sich im Finkensteiner Bund e. V. organisierte und sich neben der Musikantengilde zur zweiten Hauptströmung der Jugendmusikbewegung entwickelte.
„Das Singen als solches muß ins Volk getragen werden, muß allgemeines Gut werden“, heißt es im Vorwort zur ersten Ausgabe der Finkensteiner Blätter – jener Liederblätter Walther Hensels, mit denen Karl Vötterle 1923 nach der Finkensteiner Singwoche die Arbeit des von ihm gegründeten Bärenreiter-Verlags aufnahm. Was nach großer Nähe zu Jöde und den Bestrebungen der Musikantengilde („auf dass wir wieder ein singendes Volk werden“) klingt, offenbart bei näherem Hinsehen in Ausgangspunkten und Zielen doch erhebliche Unterschiede. Die Diskrepanzen zwischen den beiden Großströmungen der Jugendmusikbewegung, die immer wieder auch zu Anfeindungen der Musikantengilde durch Hensel führten, waren beträchtlich. Hatte die Musikantengilde ihre Wurzeln über Fritz Jöde in Großstädten (Hamburg und Berlin), entstand die Finkensteiner Bewegung im sudetendeutschen Gebiet auf dem Land, wodurch sie sich dem „Volkslied“ ursprünglicher verbunden fühlte. Durch die angefochtene Stellung der Grenzdeutschen auf tschechischem Territorium haftete der Rückbesinnung auf das deutsche Volkslied dabei eine deutlich völkische Note an. Musik war den Finkensteinern nie Selbstzweck, sondern auch oder sogar vor allen Dingen ein Mittel zur Bildung der Volksgemeinschaft. In diesem Sinne ist die Finkensteiner Bewegung nicht zuletzt eine Volkstumsbewegung. Auch die Bezeichnung „Singgemeinde“ für die örtlichen Singgruppen der Finkensteiner, die sich oft aus Singwochen ergaben, kennzeichnet den gemeinschaftsbildenden Impetus der Finkensteiner, stärker als es bei den „Singkreisen“ oder „Musikantengilden“ auf Seiten der Musikantengilde der Fall ist.
Die Singwochen blieben – auch verkürzt zu Abendsingwochen oder Singwochenenden – Hauptveranstaltungsform der Finkensteiner. Dem Gemeinschaftsleben, gekennzeichnet durch Vegetariertum und Antialkoholismus, wurde ein hoher Stellenwert beigemessen, doch waren die Veranstaltungen jeweils auf einen gewissermaßen exklusiven Personenkreis beschränkt. Entsprechend konnten die Einladungstexte bisweilen fast abschreckend klingen: „Musikalisches Interesse allein oder gar Neugierde geben keine innere Berechtigung, an der Singwoche teilzunehmen. Opferwilligkeit und strenge Selbstzucht sind dafür unerläßlich.“[*] Formate wie die von Jöde initiierten „Offenen Singstunden“, die darauf abzielten, weite Kreise zu erreichen, waren Hensel hingegen suspekt, wie überhaupt die schnelle Ausbreitung der Jugendmusikbewegung. Karl Vötterle, überzeugter, aber wachsam beobachtender „Henselianer“, beschreibt prägnant die Unterschiede zwischen Hensel und Jöde. Dabei begreift er Hensel als den „Kompromißlosen“,
„der sich seinen Maßstab vom echten Volkslied her gesetzt hat, während Jöde der Kompromißbereite war, im Bestreben, so mehr Menschen zu erreichen. Walther Hensel hat das Wachsen der Singbewegung Sorge bereitet, Fritz Jöde hat es Freude gemacht. Walther Hensels größtes Hemmnis war seine Unfähigkeit zu organisieren. Fritz Jöde war ein hervorragender Organisator. Jöde hat sehr richtig angesetzt, indem er die Schule als den wichtigsten Ausgangspunkt für seine musikalische Erneuerungsarbeit erkannt hat. Walther Hensel hat zur Schule nie einen wirklichen Kontakt bekommen. Das war nicht sein Lebenskreis. Für Walther Hensel war das Volkslied die Grundlage, der Ausgangspunkt. Jöde kam aus der Situation der Großstadt, eigentlich vom Neutöner, von der neuen Komposition her. Bei Hensel hat es lange gedauert, bis er überhaupt für neue Musik der Gegenwart Verständnis hatte.“[*]
Die Beschränkung auf Volkslied und Choral und das Festhalten an der Singwoche als Hauptarbeitsform steckte Walther Hensel und seinen Gefolgsleuten einen relativ engen Rahmen, der letztlich auch die Wirkung der Finkensteiner Bewegung begrenzte, obwohl sie ihre Singwochen rasch aufs gesamte Reichsgebiet ausdehnte. Als Singwochenleiter der Finkensteiner waren neben Hensel bald auch Persönlichkeiten wie Adolf Seifert, Oskar Fitz, Alfred Rosenthal-Heinzel, Werner Gneist, Wilhelm Hopfmüller und Ernst Schieber und später auch Richard Gölz tätig. Während aber die Musikantengilde auf die Schulmusik und die allgemeine Musikpflege einwirkte, dabei neben dem Singen auch Instrumentalmusik und Neue Musik förderte, den Aufbau von Musikschulen betrieb und sich teilweise auch technischer Mittel wie insbesondere des Radios bediente, blieben Hensel diese entscheidenden Kanäle der Außenwirkung weitgehend fremd. Dass er auch durch sein Wesen oft aneckte, erhellt aus vielen Berichten ebenso wie aus einer weiteren Charakterisierung Karl Vötterles: „Im Gegensatz zu Jöde besaß er [Hensel] keineswegs die Gabe der Verbindlichkeit. Er war zu allen Zeiten ein einsamer Kämpfer für das Lied.“[*]
Unumwunden gesteht Vötterle im Rückblick aus der Perspektive der Finkensteiner ein Konkurrenzdenken ein:
„Leider haben wir damals diese beiden Ströme [Musikantengilde und Finkensteiner] nicht gesehen als Ströme, die sich ergänzen und gegenseitig befruchten, sondern wir haben uns als Konkurrenten gesehen.“[*]
Evangelische Kirchenmusik – „pfingstliches Neuwerden“ im Zeichen der Jugendmusikbewegung
Ein Bereich, in dem der Gegensatz von Musikantengilde und Finkensteinern überbrückt werden konnte, ist die evangelische Kirchenmusik. Vertreter der Kirche wie der lutherische Theologe Wilhelm Stählin nahmen sehr bewusst den Geist der Erneuerung in der Jugendmusikbewegung wahr:
„Zunächst zwingt die Tatsache, daß dort – sowohl in den Musikantengilden wie im Finkensteiner Bund – das alte Liedgut unserer Kirche, die Choräle der Reformationszeit, die Sätze von Hasler [recte: Hassler/Haßler], Schütz, Eccard, Praetorius, mit einer Ernsthaftigkeit, Hingabe und Freudigkeit gesungen werden, die wir unserer Kirche selbst wünschen müßten; diese Tatsache zunächst zwingt zur Aufmerksamkeit!“[*]
Der Wunsch, dieses „pfingstliche Neuwerden“ (ebd.) im Rahmen der Kirche fruchtbar werden zu lassen, lag nahe. Für die „kirchenmusikalische Erneuerungsbewegung“ (Alfred Stier), die sich zu formieren begann, waren die sogenannten „Spandauer Gespräche“ (1927/28) grundlegend, in denen sich die Begegnung von Jugendmusikbewegung und Kirche institutionalisierte. Unter den Dialogpartnern fanden sich mit Walter Blankenburg, Fritz Jöde, Fritz Reusch, Konrad Ameln, Erich Vogelsang, Gerhard Schwarz, Wilhelm Stählin, Christhard Mahrenholz und Wilhelm Kamlah Vertreter der Finkensteiner und der Musikantengilde zu fruchtbarem Austausch zusammen. Als konkrete Folge der Spandauer Begegnungen wurde 1928/29 im Spandauer Johannesstift die „Evangelische Schule für kirchliche Volksmusik“ unter Leitung von Fritz Reusch gegründet, die sich bald auf die Fachausbildung konzentrierte und als erste deutsche Kirchenmusikschule gelten kann.
Die evangelische Kirchenmusik ist also ein Bereich, auf den die Jugendmusikbewegung sehr unmittelbar gewirkt hat, wobei die Nähe zu den Finkensteinern in ihrer ausgeprägt religiösen Grundhaltung besonders groß war. Unter den Teilnehmern der Singwochen der Finkensteiner fanden sich zahlreiche Pfarrer und Pfarrfrauen, die hier die Arbeit der Singbewegung kennenlernten. Und mit Wilhelm Hopfmüller, Ernst Schieber und etwas später auch Richard Gölz zählten umgekehrt auch Pfarrer zu den Singwochenleitern des Finkensteiner Bundes.
Ein zentraler Gedanke der kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegung war es, dass die sakrale Musik nicht bloßes „Ornament“ des Gottesdienstes sein, sondern in enger Beziehung zum gottesdienstlichen Handeln stehen sollte. Auch junge Komponisten schrieben Werke im Geist der kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegung: Kirchenmusik von Komponisten wie Helmut Bornefeld, Hugo Distler, Hans Friedrich Micheelsen, Ernst Pepping, Siegfried Reda und Gerhard Schwarz fand Eingang in das Programm des Bärenreiter-Verlags und wurde damit aufführbar. Bei Bärenreiter erschien ab 1929 auch die von Walter Blankenburg, Christhard Mahrenholz und Karl Vötterle gegründete und bis heute weitergeführte Zeitschrift „Musik und Kirche“, die zum maßgeblichen Periodikum der evangelischen Kirchenmusik wurde.
1933 - Das Ende der Jugendmusikbewegung?
Die im engen Kreis der Kerngilde abgehaltene Führertagung der Musikantengilde in Oberhof 1929 beschäftigte sich explizit mit der Frage der Wandlungs- und Zukunftsfähigkeit der Bewegung. Im Rahmen des zurückliegenden Jahrzehnts, das als Hochphase der Jugendmusikbewegung zu gelten hat, hatte man mit enormem Engagement tiefgreifende Entwicklungen ausgelöst, die nun – in breiter personeller, institutioneller und räumlicher Streuung – eine Eigendynamik entfaltet hatten und der steten Rückvergewisserung auf die Musikantengilde nicht mehr in der Weise bedurften wie zu Beginn. Schon in mancher zeitgenössischen Einschätzung markierten die Jahre um 1930 in ihrer selbstkritischen Richtungssuche und spätestens die historische Zäsur 1933 das Ende der Jugendmusikbewegung. Dieser Eindruck verstärkte sich im Rückblick noch. So schreibt etwa Ekkehart Pfannenstiel 1969 an Heinrich Schumann, was nach 1933 geschah, sei „ganz was anderes“ gewesen: „was seit 1933 geschah, waren nur noch Auswirkungen, ein Weiterwirken“[*]. In einem Spannungsverhältnis hierzu stehen die zahlreichen Aussagen der Nachkriegszeit, man habe nach 1933 einfach mit unbeirrtem Sinn weitergemacht, also weiter musiziert, ungeachtet der veränderten äußeren Bedingungen – kontinuitätsbetonende Aussagen aus einer Zeit, in der sich die alten Akteure noch einmal neu formierten, um das Musikleben der Nachkriegszeit in ihrem Sinne neu aufzubauen.
Festzuhalten ist aber, dass das Bewusstsein, eine – mehr oder minder einheitliche – Bewegung zu formieren, selbst innerhalb der Musikantengilde um 1930 schon massive Brüche erlitten hatte. So ist denn auch das Fortwirken unter NS-Bedingungen weniger im Hinblick auf die Bewegung in ihrer fragwürdig gewordenen Ganzheit, sondern in Bezug auf den Einzelnen und sein Verhältnis zum NS-Staat und dessen Institutionen zu untersuchen. Dass man sich zum Teil willig oder sogar mit ehrlicher Begeisterung auf eine Indienstnahme einließ, steht ebenso außer Frage wie die Tatsache, dass die entwickelten Formen der öffentlichen Musikpraxis – darunter nicht zuletzt die Offene Singstunde – prädestiniert waren für die Nutzung im totalitären Staat und mancher Akteur sich der Würdigung freute, die das eigene Tun dementsprechend nun im NS-Staat erfuhr. Auf dieser Basis aber der Jugendmusikbewegung als Ganzer nationalsozialistische Tendenzen zuzuschreiben und sie gar zur Wegbereiterin des Nationalsozialismus zu erklären, wie es später insbesondere Theodor W. Adorno praktizierte, wäre unzutreffend und hieße, jenen humanitätsstiftenden Impetus zu verkennen, der an der Basis dieser Bewegung stand.
Die Errungenschaften, die die Jugendmusikbewegung – und ganz besonders die wirkungsmächtige Musikantengilde um Fritz Jöde – in den 1920er Jahren, ihrer umtriebigen „Hauptphase“, erzielte, sind beachtlich und vielfältig: eine immense Förderung des Laienmusizierens mit einem Aufblühen von Chören und Musizierkreisen sowie der Entwicklung neuer Beteiligungsformate (bes. Offenes Singen, Sing- und Musiziertagungen), die inhaltliche Neuausrichtung und Aufwertung des schulischen Musikunterrichts mit verbesserter Lehrerbildung, der Aufbau eines Musikschulnetzes für Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene, Impulse für den Instrumentenbau und die Verbreitung relativ einfach zu erlernender Instrumente (z.B. Blockflöte), zahllose Noteneditionen in Verbindung mit den beiden Hauptverlagen der Jugendmusikbewegung (Kallmeyer auf Seiten der Musikantengilde, Bärenreiter auf Seiten der Finkensteiner und besonders auch im Bereich der Kirchenmusik), die Erweiterung des Chorrepertoires in der Rückbesinnung auf die alte Vokalpolyphonie, zugleich aber auch der Versuch, die Neue Musik in die Breite der Gesellschaft zu führen, wie er sich in der Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten manifestierte (z.B. Paul Hindemith, Ernst Lothar von Knorr, Armin Knab oder Wilhelm Maler), und schließlich auch eine rege Publikationstätigkeit mit eigenen Zeitschriftenreihen. In dem Sinne, dass Arbeitsformen und Strukturen um 1930 herum entwickelt und erprobt waren, könnte man Ekkehart Pfannenstiel zustimmen, wenn er in allem, was später kam, nur noch ein „Weiterwirken“ sah – Bedingungen und Ziele allerdings unterlagen den jeweiligen Anforderungen der Zeit entsprechend einem laufenden Wandel.
(ub)