Heinrich Schumann
1902-1988
[Nachlass in AdJb A 228]
Heinrich Schumann wurde am 6. März 1902 in Hamburg-Harvestehude geboren. Er habe „keine leichte Jugend“ gehabt, notiert er in einem ausführlichen tabellarischen Lebenslauf.[*] Schon früh musste er als ältestes von vier Kindern eines Schuhmachermeisters mitverdienen und ging im Laufe der Jahre verschiedensten Tätigkeiten nach, von Brot- und Zeitungaustragen über Nachhilfeunterricht bis zur Hilfstätigkeit im Kindertagesheim und beim Roten Kreuz. Auch das Geld für den Klavierunterricht, den er mit 12 Jahren zu nehmen begann, musste er sich selbst verdienen. Ein Instrument stand ihm in dem durchaus musikalischen Elternhaus aber zur Verfügung (der Vater war Mitglied im Gesangsverein, die Mutter spielte Zither). Den Besuch der Volksschule beendete Heinrich Schumann mit der in Hamburger Schulen praktizierten „Selekta“, einem freiwilligen, schulgeldfreien Schuljahr für besonders begabte Schüler aus mittellosen Verhältnissen, deren Familien das Geld für eine höhere Schule nicht aufzubringen vermochten. 1916 begann er eine Banklehre, besuchte dann aber vom Herbst 1916 bis zum Frühjahr 1922 das Lehrerseminar Hamburg-Hoheweide. Sein Schwerpunkt lag zunächst auf den Naturwissenschaften (Mathematik, Physik, Chemie, Biologie), doch erhielt er auch Musikunterricht, und es entstanden in dieser Zeit bereits erste Lieder. 1920 trat er der Wehrloge bei und gründete hier seinen ersten Chor.[*]
Interview 1975
Schon 1922, als er in den Hamburger Schuldienst trat, lernte Schumann bei einem Lehrerkurs in seiner Heimatstadt Fritz Jöde kennen. In der ersten Volksmusikschule in Hamburg, die – nach gründlicher Vorbereitung durch Jöde – 1923 eröffnet wurde, war Schumann von Beginn an als Musiklehrer tätig, unterrichtete Melodielehre und baute Chor und Instrumentalgruppe auf. Sein 2. Volksschullehrerexamen stand bereits im Zeichen der Musik und der Jugendmusikbewegung: Schumann reichte 1925 eine Arbeit mit dem Titel „Grundlagen der Musikerziehung. Versuch einer Synthese aus dem Geiste der Jugendmusikbewegung“ ein, im Folgejahr legte er das Examen als Musiklehrer für die höhere Schule und das Lehrerseminar ab.
1926/1927 wurde Schumann für ein Studienjahr in Berlin von seiner schulischen Tätigkeit freigestellt und besuchte musikwissenschaftliche Lehrveranstaltungen an der Humboldt-Universität (bei Johannes Wolf, Hermann Abert und Friedrich Blume), an der TU (bei Hans Mersmann) und an der Akademie für Schul- und Kirchenmusik (bei Carl Thiel und Erwin Bodky). Daneben nahm er an einem Lehrgang Fritz Jödes für Volks- und Jugendmusikschullehrer teil und fungierte dabei bereits gelegentlich als dessen Vertreter. Auch Jödes erste „Offene Singstunde“ in Berlin im Sommer 1926 erlebte er mit.
Nach Hamburg zurückgekehrt, wurde Heinrich Schumann bald zum Oberschullehrer ernannt. Er war zunächst hauptamtlich am Institut für Lehrerfortbildung tätig, später an Gymnasien (Kirchenpauer-Realgymnasium Hamburg-Hamm, Gymnasium Rahlstedt). Gleich 1927 wurde auch die Reihe seiner „Offenen Singstunden“ eröffnet, von denen Schumann – der seine Aktivitäten gern quantifizierte – im Laufe seines Lebens mehr als Tausend durchführte. 1932 zog er mit seiner Frau und den vier Kindern ins nordöstlich von Hamburg gelegene Ahrensburg, behielt damit aber die räumliche Anbindung an die Großstadt, in der er weiterhin arbeitete.
Die enge Zusammenarbeit mit Fritz Jöde begleitete Schumanns weitere Laufbahn. Führertagungen der „Musikantengilde“, Singwochen und Lehrertagungen sahen Jöde und Schumann gemeinsam in Leitungsfunktionen, immer wieder ließ sich Jöde auch von Schumann vertreten. Schumann ersetzte den Lehrer und Freund auch bei den Schweden-Reisen 1935/36 zu Lehrgängen an der Siljanskola/Dalarna, als Jöde keine Reiseerlaubnis erteilt wurde (ein musikalischer Reflex auf diese für Schumann sehr erfolgreichen, gut dokumentierten Reisen ist sein „Siljan“-Kanon „Siljan, du Dalarnas Perle, du hast mein Herz gebunden mit Zaubergewalt“)[*].
Über sein eigenes Wirken zu Beginn der NS-Zeit schreibt Schumann in einem Gutachten für den angefochtenen Fritz Jöde 1936:
„Meine Arbeiten, die ich seit Mai 1933 für die NSDAP leiste, die bisher nur Freude und Anerkennung brachten, stehen ja in direktem Zusammenhang mit der Einstellung, die Fritz Jöde vertritt. Und wenn meine Arbeit, die ich zunächst als politischer Leiter meiner Ortsgruppe Ahrensburg allmählich auf den ganzen Kreis Stormarn ausdehnte, heute zu einem Umfang auswuchs, daß ich kaum dagegen ankann, so ist dieser Erfolg nicht nur von mir allein in Anspruch zu nehmen. Heute arbeite ich als politischer Leiter im Kreisstab des Kreises Stormarn, direkt dem Kreisleiter Friedrich zur Durchführung der Versammlungen unterstellt. Darüber hinaus bin ich Mitarbeiter im Schulungsamt der Gaue Schleswig-Holstein und Hamburg. Durch meine Singarbeit bei den Reichsschulungstagungen der N.S.-Frauenschaft auf der Insel Norderney in den Jahren 1935 u. 1936, ist von mir eine große Singaufbauarbeit in den verschiedenen Gauen und Kreisen der N.S.-Frauenschaft geleistet worden. Im Gau Weser-Ems besuchte ich fast jeden Kreis von Osnabrück bis Bremen, ebenso schulte ich im Gau Westfalen-Nord und werde im Herbst den Gau Westfalen-Süd besuchen und schulen. Vom Seminar der DAF in Hamburg bin ich eingeladen worden, bei der KdF-Fahrt nach Norwegen mit ca. 1000 Volksgenossen meine Singarbeit als Formung darzustellen. Es ließen sich noch so ungeheuer viele Dinge berichten. [...]“[*]
Ist auch der Tonfall dem Zweck des Schreibens geschuldet, wird doch deutlich, dass Schumann, der im April 1933 der NSDAP beitrat, seine musikalische Arbeit nahtlos innerhalb der NS-Strukturen weiterführte. Die überlieferten Briefe deuten darauf hin, dass er eher mit seinen konkreten Arbeitsbelastungen, einzelnen NS-Funktionären und der angefochtenen Stellung Fritz Jödes haderte als mit den politischen Rahmenbedingungen als solchen. Bemerkenswert bleibt aber sein konstantes Bekenntnis zu Jöde, auch im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen, trotz heftiger Attacken der nationalsozialistischen Presse gegen den Freund.
Heinrich Schumanns Kriegsdienst währte nur kurz: Schon im Dezember 1939 wurde er aus gesundheitlichen Gründen aus dem Polenfeldzug entlassen, belegt ist zuvor auch seine Beteiligung am militärischen Aufmarsch in der Sudetenkrise (etliche Dokumente hierzu finden sich in AdJb A 228 Nr. 22). Durch die „Kriegsdienstverordnung“ wurde Schumann 1941 an die neue Lehrerbildungsanstalt Hamburg versetzt. 1942 gründete er eine Musikschule der Hitlerjugend und übernahm ihre Leitung. Auch die Rundfunkspielschar am Reichssender leitete er in den letzten Kriegsjahren, wobei er an frühere Rundfunktätigkeiten anknüpfen konnte (von 1928 bis 1933 hatte er im Schulfunk mitgearbeitet). Als nach einer 288-tägigen Internierung im Lager Neumünster 1945/46 Schumanns Entnazifizierungsverfahren begann, bekundeten die Sänger der Spielschar zu seiner Entlastung, nicht nationalsozialistisch beeinflusst worden zu sein (s. AdJb A 228 Nr. 2). Die im Bestand des AdJMb überlieferten Dokumente stützen das Bild einer auf musikalische Belange ausgerichteten Tätigkeit. Während des laufenden Entnazifizierungsverfahrens, das erst 1952 endete, arbeitete Heinrich Schumann als Volksschullehrer, von 1952 bis zu seinem Ruhestand 1964 war er als Musiklehrer am Matthias-Claudius-Gymnasium in Wandsbek tätig – ein Schlaglicht auf seinen musikhistorisch orientierten Schulunterricht werfen zwei Hefte mit Stundenprotokollen, die die Schüler zu führen hatten (siehe AdJb A 228 Nr. 21).
Zusätzlich zum Schuldienst nahm Heinrich Schumann stets eine Fülle anderer Aufgaben wahr. Von 1952 bis 1969 lehrte er am Institut für Lehrerfortbildung in Hamburg. An der Volkshochschule Hamburg engagierte er sich mit Musikvorträgen, meist Konzerteinführungen, die er im Laufe der Jahre über die 800 hinaus zählte, an der Volkshochschule Ahrensburg überschritt er die Zahl 100. Über 600 Vorträge über „Bauformen in der Musik“ an der Fachhochschule für Bauwesen gehören ebenfalls zu den Aktivitäten, von denen Schumann in seinen Briefen immer wieder berichtet. Daneben übte er eine umfangreiche Chorleitertätigkeit aus (u.a. leitete er von 1949 bis 1960 den von ihm gegründeten Wandsbeker Jugendchor), veranstaltete Singwochen und Singtreffen und leitete weiterhin „Offene Singen“, von denen besonders diejenigen im Hamburger Stadtpark sich einer großen Besucherzahl erfreuten. Zahlreiche selbst komponierte und arrangierte Lied- und Chorsätze sowie Kanons gehören in den Kontext seiner Chorleiteraktivitäten (z.B. AdJb A 228 Nr. 23). Überdies verfasste Schumann ein Buch über die „Bambusflöte“ (Schott 1952) und etliche Artikel für verschiedene musikpädagogische Zeitschriften.
Die freundschaftliche Beziehung zu Jöde überdauerte die NS-Zeit. Nachdem Jöde 1947 in seine Heimatstadt Hamburg zurückgekehrt war, kam es erneut zur Zusammenarbeit bei gemeinsamen Tagungen (z.B. im Haus der Jugend am Wannsee/Berlin) und zu Hilfs- und Lektoratstätigkeiten Schumanns für Jöde. Dass es zeitweise auch ernsthafte Konflikte gab, verraten nur wenige Dokumente (insbesondere ein Brief an Bernhard Bosse von 1986, siehe AdJb A 228 Nr. 86).
Als Fritz Jöde 1959 das „Archiv der Jugendmusikbewegung“ (AdJMb) gründete, übernahm Schumann die Geschäftsleitung. Gemeinsam mit Alfred Toepfer gründeten beide 1962 auch den Hans-Breuer-Singkreis, für den Schumann über zwei Jahrzehnte verantwortlich zeichnete. Der Singkreis, der zahlreiche Singwochenenden (besonders in Inzmühlen) und Reisen unternahm, war dem AdJMb eng verbunden. Nach Jödes Ausscheiden aus der Archivtätigkeit übernahm Schumann die Leitung und den Vereinsvorsitz bis zur Abgabe an den Nachfolger Herbert Rühl 1985; in diese Zeit fiel auch die von Schumann begleitete Vorbereitung der Dokumentation „Die deutsche Jugendmusikbewegung in Dokumenten ihrer Zeit von den Anfängen bis 1933“ (erschienen bei Möseler 1980). Auch Schumanns unermüdliches Engagement für das Archiv lag letztlich in seiner engen Beziehung zu Fritz Jöde begründet. Anlässlich des 100. Geburtstags von Fritz Jöde 1987 resümierte er:
„Als Vorsitzender und Leiter des Archivs der Jugendmusikbewegung […] sah ich meine Aufgabe darin, das Erbe Fritz Jödes und aller anderen in der Jugendmusikbewegung tätigen Mitarbeiter zu bewahren und der Nachwelt zu erhalten.“
Und er erklärte:
„Für den Verfasser dieser Zeilen ist Fritz Jöde, wie für viele andere, schicksalhaft gewesen. Durch seine Ideen wurden auch wir so begeistert, daß wir fortan unsere ganze Kraft in den Dienst der Jugendmusikbewegung stellten […].“[*]
Heinrich Schumann starb am 3. Dezember 1988 in Ahrensburg.
(ub)