Hilmar Höckner
1891-1968
[Nachlass in AdJb A 228]
Hilmar Höckner wurde am 24. Dezember 1891 in Leipzig geboren. Sein Vater Dr. Georg Höckner, ein namhafter Versicherungsmathematiker, war ein begeisterter Musikliebhaber und Laiencellist, der auf die musikalische Ausbildung der drei Söhne Hilmar, Erich und Walter großen Wert legte. Hilmar erhielt Geigenstunden bei einem Mitglied des Gewandhausorchesters und machte in familiärem Rahmen frühe und intensive Erfahrungen mit Kammermusik. Von 1911 bis 1915 studierte er am Leipziger Konservatorium (bei Hans Sitt, Hans Becker, Johannes Merkel und Julius Amadeus Nestler), parallel an der Leipziger Universität Musikwissenschaft bei Hugo Riemann und Arnold Schering. In den letzten drei Kriegsjahren leistete er Heeresdienst (in Leipzig). 1917 heiratete er die vier Jahre jüngere Pianistin Marta (oft auch: Martha) Schoder.
Anfang 1919 trat Höckner eine Stelle als Musiklehrer an der reformpädagogischen Dürerschule in Hochwaldhausen (Vogelsberg) an; Marta Höckner unterrichtete dort bereits seit 1917. Er setzte sich in diesen Jahren intensiv mit dem Denken August Halms auseinander. Nicht zuletzt dessen Postulat, Schüler durch aktives Musizieren an die großen Meisterwerke der Musikgeschichte heranzuführen, wurde für Höckner prägend. Auch die ersten Kontakte zur Jugendmusikbewegung rund um Fritz Jöde fielen in die Zeit an der Dürerschule: Höckner wurde Mitarbeiter der Zeitschrift „Laute“ (später: „Musikantengilde“) und blieb lebenslang mit Jöde in Verbindung. Die Schule wurde 1920 geschlossen, nachdem es zu sexuellen Übergriffen durch den Schulleiter Georg Hellmuth Neuendorff und zum Suizid einer schwangeren Schülerin gekommen war – Briefwechsel in dieser Angelegenheit, insbesondere mit dem Ehepaar Neuendorff und mit dem Musikwissenschaftler Ernst Kurth, finden sich im Nachlass (siehe besonders AdJb A 228 Nr. 453, 470, 493).
Nach der Schulschließung verlagerte Höckner seinen Lebensmittelpunkt nach Freiburg und setzte sein musikwissenschaftliches Studium bei Wilibald Gurlitt fort (zahlreiche Briefe von und an Gurlitt, auch aus späteren Zeiten, sind überliefert). Parallel wirkte Höckner am Freiburger Konservatorium bereits als Dozent für Musikgeschichte und Musiktheorie und schrieb – wie später in Fulda – Musikkritiken.
1923 wurde er Hauptmusiklehrer am Landerziehungsheim Schloss Bieberstein (Oberstufe der Hermann Lietz-Schule). Ein Schwerpunkt seiner Arbeit lag hier auf dem Aufbau eines Schulorchesters. Die Instrumentalmusik und nicht das Singen ins Zentrum zu stellen, unterschied ihn von den meisten Vertretern der Jugendmusikbewegung. Über seine Erfahrungen mit dem erfolgreichen Biebersteiner Schulorchester, das als einen besonderen Höhepunkt 1927 eine Abendmusik im Berliner Schloss Bellevue gestaltete, schrieb Höckner begleitend etliche Aufsätze (z.B. „Jugendmusik im Landerziehungsheim“, in: Werkschriften der Musikantengilde, Heft 1, 1926). Dass der Schweizer Paul Sacher sich als junger Dirigent Rat bei Hilmar Höckner holte (bes. AdJb A 228 Nr. 519), macht exemplarisch deutlich, dass Höckner es in seiner Orchesterarbeit zu einiger Bekanntheit brachte.
Auf der 1. Reichsführerwoche der „Musikantengilde“ auf der Jugendburg Lobeda bei Jena lernte Höckner 1924 Ekkehart Pfannenstiel kennen und gewann ihn für die Mitarbeit in den Lietzschen Landerziehungsheimen. Auch die 1. Hochschulwoche der Musikantengilde im Herbst 1926 in Brieselang gestaltete Höckner als Dozent mit und begegnete dort Paul Hindemith, „der“ – wie Höckner schreibt – „durch meinen Bericht über unser Biebersteiner Schulorchester den Anreiz zur Komposition seiner ersten ‚Spielmusik‘ für Laien op. 43 I erhielt“.[*] Hindemith kam auch persönlich nach Bieberstein und spielte Bratsche im Orchester. Paul Hindemith zum Schreiben für Laienorchester bewegt zu haben, bleibt das historische Verdienst Höckners, dessen er sich in zahlreichen Briefen lebenslang rühmte (entsprechende Anfragen bei Bartók, Strawinsky und Henze, die im Nachlass überliefert sind, blieben hingegen ohne Erfolg). So schreibt auch Hermann Fuhrich an Waltraut Jonas 1975 über Hindemith, er habe „eine Reihe von Werken für das Orchester des Bibersteiner [sic] Landerziehungsheims (Hilmar Höckner)“ geschrieben, „und zwar mindestens in dem Jahre, als ich Höckners Assistent war (1927/28), z.B. die ‚Fünf‘ und die ‚Acht Stücke für Streichorchester‘ und die Variationen über den Jäger aus Kurpfalz (dafür habe ich die Instrumentalstimmen für den Druck aus der Partitur herausgeschrieben!).“ Fuhrich resümiert:
„Es war dies wohl (auf Höckners Anregung) das erste Mal, daß ein Komponist von Rang Musik für ein Schulorchester geschrieben hat, und Höckners Wirken dürfte auch überhaupt der erste Anstoß gewesen sein, die Schulorchester von den unzulänglichen Salon-Orchester-Ausgaben großer Werke wegzubringen und eine ihnen gemäße Instrumentalmusik zu spielen.“[*]
Hilmar Höckner arrangierte – teilweise zusammen mit seinem Bruder Walter - zahlreiche alte und neue Werke für den praktischen Gebrauch und brachte sie zur Veröffentlichung. Wurden von Verlegern und Mitarbeitern immer wieder Höckners zu ausführliche Spielanweisungen kritisiert, die den unermüdlichen Didakten zeigen, so haben sich die Editionen teilweise doch bis heute auf dem Markt gehalten. Das Urteil Friedrich Blumes zu einer Lully-Edition, das ein Mitarbeiter des Kallmeyer Verlags im März 1930 an Höckner übermittelte, zeigt höchste Wertschätzung:
„Die Ausführung ist, wie stets bei Höckner, vollkommen druckfertig und als musterhaft zu bezeichnen. Die Präzision und Exaktheit seiner Bearbeitungen kann sich jedermann zum Muster nehmen.“[*]
1927 erschien Höckners Buch „Die Musik in der deutschen Jugendbewegung“ bei Kallmeyer, durch das Höckner sich den Ruf des „Historiografen“ der Jugendmusikbewegung erwarb. Die Darstellung, in der die Musik im Wandervogel eine große Rolle spielt, ist erkennbar aus der Perspektive der Musikantengilde rund um Fritz Jöde geschrieben, Walther Hensel und der Finkensteiner Bund werden nur im Schlusskapitel kurz angeführt. Karl Vötterle kommentiert diesen Umstand 1929 in einem Brief an Höckner:
„Sie wissen, Ihre Geschichte der deutschen musikalischen Erneuerungsbewegung schloss einige Jahre früher vor dem damaligen Erscheinungstermin ab. Das wirkte sich für uns, d.h. die Finkensteiner Arbeit, sehr unangenehm aus. Denn bis zu dem Termin, mit welchem Sie abschlossen, war unsere Arbeit literarisch kaum nennenswert, sodass Sie verhältnismässig kurz dabei wegkamen, während in Wirklichkeit schon damals und noch in viel stärkerem Masse bei Erscheinen Ihres Buches die Finkensteiner Arbeit wesentlich grössere Bedeutung hatte. Durch einige für den damaligen Stand berechtigte Formulierungen ergibt sich noch heute sehr oft eine falsche Beurteilung unserer Arbeit, die uns recht schmerzlich ist.“[*]
Persönliche Ressentiments scheint Höckner nicht gehabt zu haben, was sich unter anderem daran zeigt, dass er später wiederholt mit Walther Hensel zusammenarbeitete, z.B. bei der Comburger Singwoche 1935 (siehe AdJb A 228 Nr. 504). Höckners umfangreiche Abhandlung zur Jugendmusikbewegung ist nicht zuletzt hinsichtlich der großen Bedeutung, die August Halm zugemessen wird, ein interessantes Zeitdokument. Seine Hoffnung, die Arbeit könne als Dissertation gewertet werden, scheiterte jedoch an fehlenden Studienvoraussetzungen.
1927 wurde Höckner musikpädagogischer Leiter der D. L. E. H. (Deutschen Landerziehungsheime), bekleidete also eine übergreifende Stellung für die verschiedenen Standorte der Lietz-Schule. Die Musikarbeit in den Lietz-Schulen wird in seinen Korrespondenz- und Materialsammlungen detailreich beleuchtet. Unterbrochen wurde Höckners Arbeit in Bieberstein 1931 durch eine kurze Zeit an der Pädagogischen Akademie Cottbus, die ihm den Professorentitel eintrug. Unerwartete Differenzen mit dem in Cottbus lehrenden Ekkehart Pfannenstiel, die in dieser Zeit aufbrachen (siehe AdJb A 228 Nr. 509), ließen Höckner schon nach wenigen Monaten wieder nach Bieberstein zurückkehren, wo er bis 1947 tätig war.
In der NS-Zeit wurde Höckner musikalischer Fachberater der Kreisstelle der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ und Bezirksleiter des Reichsverbands für Volksmusik in der Reichsmusikkammer. Es ist angesichts der Masse an Korrespondenz erstaunlich, dass nur wenige Äußerungen zum Zeitgeschehen überliefert sind. Verhalten skeptische, aber keineswegs grundsätzlich kritische Bemerkungen fallen Bruder Walter gegenüber, wobei kennzeichnend ist, dass sie auf Musik und Beruf ausgerichtet bleiben. So schreibt Höckner beispielsweise am 18. März 1933 an den Bruder, er könne noch nicht erkennen, „inwiefern gerade der Musik die neue Zeit neue Impulse geben soll. Das Absacken im Rundfunk ist ja katastrophal.“[*] Und wenige Wochen später, am 20. April 1933: „Was die Neue Zeit anbetrifft, so wird es auch für uns hier sicher noch manche Ueberraschung geben. Denn man wird selbstverständlich nicht nur bei den öffentlichen, sondern auch bei den privaten Schulen die ‚Gleichschaltung‘ verlangen.“[*] Auch nach Kriegsausbruch bleibt der Blick auf berufliche Dinge gerichtet, an Harald Saeverud schreibt Höckner im November 1939: „Ich bin sehr traurig, daß der Krieg meine Arbeit am Divertimento unterbrochen hat […] Trotz der aufgeregten Zeit geht es uns gut. Ich bin beruflich ganz ausgefüllt.“[*] Selbst als seine Schüler 1943 zum Flak-Dienst eingezogen werden, bekümmert Höckner vorrangig die Beeinträchtigung seiner Schulorchester-Arbeit. An seine Mutter schreibt er:
„Bieberstein wird wohl in der Tat bald alle Schüler verloren haben, da diese für den Dienst bei der Flak eingezogen werden. Wir bekommen dann aber neue (jüngere) Schüler. Immerhin wird meine Arbeit stark gestört.“[*]
Kennzeichnend für Höckners Verhalten in der NS-Zeit scheint zu sein, was er Heinz Riemann gegenüber im Juni 1933 formulierte: „S.A.-Mann bin ich noch nicht, stehe aber auch auf dem Standpunkt, dass man der neuen Zeit nicht gerecht wird, wenn man beiseite steht, sondern nur durch tätige Mitarbeit.“[*] Diesem Grundsatz hat Höckner, der erst 1941 in die Partei eintrat, in seinen musikalischen Beraterfunktionen und bei der aktiven Beteiligung an der musikalischen Gestaltung zahlreicher NS-Veranstaltungen entsprochen. Dass es ihm bei allem, was er tat, primär um seine musikalische Arbeit ging, ist angesichts seiner Fokussierung glaubwürdig. Dass er indes dem allgemeinen Aufruf folgte, eine Führerrede ins Ausland zu schicken und sie ausgerechnet dem ablehnenden Norweger Harald Saeverud sandte (siehe AdJb A 228 Nr. 457), zeugt nicht von so entschiedener Distanzierung, wie sie ein mehrseitiges Entlastungsschreiben aus der Nachkriegszeit glauben machen will, das in Zusammenhang mit der Eröffnung der Fuldaer Musikschule entstand: „Without any exaggeration and in full responsability I may say of me: I never was a Nationalsozialist and did not sympathize with Nazism for a single hour“ [sic][*]. Eine abschließende Einschätzung bleibt einer ausführlicheren Untersuchung vorbehalten.
Die Nachkriegszeit erlebte Höckner mit seiner Frau und dem Pflegesohn Bernhard Schaub, einem jungen Pianisten, in Fulda, wohin er 1937 gezogen war. Höckner war zwischen 1946 und 1961 mit wechselnden Lehraufträgen als Dozent in der Lehrerbildung tätig (pädagogische Ausbildungskurse in Weilburg, Jugenheim und Fulda), arbeitete an der Musikschule und an der Volkshochschule und klagte oft über seine prekäre berufliche Situation. 1955 erhielt er die Goetheplakette des Hessischen Ministers für Erziehung und Volksbildung, eine Auszeichnung für besondere Verdienste in der Kunst- und Kulturförderung.
Von 1961 bis zu seinem Tod am 24. Januar 1968 lebte Höckner zusammen mit seiner Frau auf Schloss Ortenburg und setzte seine publizistische und editorische Tätigkeit fort.
(ub)