Max Drischner
1891-1971
[Nachlass siehe AdJb N 165]
Der Organist und Komponist Max Drischner war in den 1920er und 1930er Jahren als Kantor der Nikolaikirche in Brieg im Geist der Jugendmusikbewegung aktiv. Die Vertreibung aus Schlesien 1946 bedeutete einen gravierenden biografischen Einschnitt; in Vorworten, Briefen und Rundschreiben nimmt daher das Thema der schlesischen Vergangenheit bis an Drischners Lebensende immer wieder breiten Raum ein. Im Leben Drischners spielten außerdem einzelne Persönlichkeiten eine wichtige Rolle: Wanda Landowska, seine Cembalo-Lehrerin, sowie Albert Schweitzer, mit dem er freundschaftlich verbunden war. Zu beiden finden sich in seinem Nachlass Dokumente und Erinnerungsstücke.
Aufgewachsen in einer schlesischen Kaufmannsfamilie in Prieborn, begann Max Drischner zunächst ein Studium der Theologie in Leipzig und Breslau, gab es dann aber für sein eigentliches Interesse auf – ein Musikstudium in Berlin. Wanda Landowska, die er bereits voller Begeisterung beim Bachfest in Breslau 1912 gehört hatte, nahm ihn 1914 in ihre Cembaloklasse auf. Dieser Unterricht wurde zu seiner prägendsten musikalischen Erfahrung. 1916 kam allerdings sein Studium zum Erliegen, da er zum Krieg eingezogen wurde. Infolge einer Erkrankung verlor er ein Fingerglied, doch dank einer von Landowska erlernter guten Technik hinderte ihn dies nicht an der weiteren Musikausübung. Nach dem Krieg war Wanda Landowska bereits in Paris. Kontakt bekam Drischner erst wieder zu ihr, als sie nach dem Zweiten Weltkrieg in Lakeville eine neue Heimat gefunden hatte und ein in den USA lebender Jugendfreund Drischners in seinem Namen den Austausch mit ihr aufnahm.[*]
In der Nachkriegszeit gab es für Max Drischner nur wenige Möglichkeiten für Konzertauftritte als Cembalist. Paul Hielscher, Musikdirektor, Kantor und Organist an der Brieger Nikolaikirche, wurde sein Lehrer und unterrichtete ihn in Kirchenmusik und Orgelspiel. Als Nachfolger Hielschers trat Drischner 1924 schließlich sein Amt als neuer Kantor in Brieg an.
Mit seinem anderen „geistigen Mentor“, Albert Schweitzer, begann der Kontakt bereits in seiner Jugend. Schon früh war Drischner von der Bach-Monografie Schweitzers beeindruckt, weshalb er dem berühmten Theologen, Musikwissenschaftler, Organisten und „Urwaldarzt“ 1910 einen Brief schrieb. Im Rückblick resümiert er: „Durch dieses Buch erwachte ich zum Leben.“[*] Daraus entstand ein freundschaftlicher Briefwechsel, in Verbindung mit mehreren gegenseitigen Besuchen. Schweitzer übernahm die Rolle eines väterlichen Fürsprechers und ermunterte ihn auf seinem eigenen musikalischen Weg. So war er es laut Drischner, der ihn überhaupt erst dazu gebracht hat, seine Noten veröffentlichen zu lassen:
„Anfang Februar 1929 begleitete ich Albert Schweitzer auf einer Reise und weilte dann eine Reihe von Tagen bei ihm in Königsfeld. Eines Tages spielte ich auf seinen Wunsch auf der Orgel in der Kirche der Brüdergemeinde aus meinen Stücken vor. Er riet mir, sie drucken zu lassen. Als ich erwiderte, daß die Stücke doch lediglich für meinen bescheidenen Arbeitskreis in Brieg geschrieben seien, sagte er: ‚Die Menschen haben ein Anrecht darauf.‘“[*]
In Briefen und Publikationen berichtete Drischner mehrfach über seinen Austausch mit Schweitzer und betonte, welche Bedeutung er für ihn hat. „Diese Freundschaft wog manches Unheil in meinem Leben auf und ließ mich auch negative Kritik gelassen hinnehmen.“[*] Ein wichtiges Zeugnis dieser Freundschaft ist das Klavichord (AdJb N 165 Nr. 1), das Albert Schweitzer seinem Freund 1949 schenkte, nachdem Drischner durch die Vertreibung aus Schlesien mit seinem gesamten Besitz auch sein wertvolles Steingraeber-Cembalo, eine Nachbildung eines Bachschen Instrumentes, verloren hatte.
Nach seinem Amtsantritt in Brieg setzte sich Max Drischner dafür ein, dass die Engler-Orgel der Nikolaikirche nicht modernisiert, sondern im ursprünglichen Sinne restauriert wurde. Damit entsprach er den Vorstellungen der von Wilibald Gurlitt, Christhard Mahrenholz u.a. angestoßenen Orgelbewegung, die sich teilweise auch auf Vorstellungen von Albert Schweitzer berief. In den Jahren 1926 bis 1928 nahmen Hans Henny Jahnn und die Firma Kemper die aufwändige Restaurierung vor. Der Klang dieser Orgel wurde für Max Drischner zur zentralen Inspirationsquelle für seine Kompositionen, alle Orgelwerke aus jener Zeit hat er speziell für dieses Instrument geschrieben. Er etablierte außerdem regelmäßige Orgelfeierstunden und geistliche Abendmusiken. Erwähnt wird u.a. auch eine Bearbeitung der „Kunst der Fuge“ zu vier Händen, die er mit seiner Orgelpartnerin Katharina Hartmann (und Klavierlehrerin des jungen Kurt Masur) mehrfach zur Aufführung brachte.[*]
Eine weitere wichtige Neuerung nach seinem Amtsantritt in Brieg war die Gründung eines Jugendchors: Den bisherigen (bezahlten) Kirchenchor tauschte Drischner allmählich gegen ein neues Ensemble mit singfreudigen jungen Leuten aus. Er beschreibt den Chor selbst:
„Dieser Jugendchor setzt sich zusammen aus Leuten aller Stände […]. Das Zusammenwirken dieser verschiedenen Menschen ist einzig dadurch bedingt, daß sie ihr Singen als Gottesdienst und als Dienst an der Gemeinde betrachten. Dadurch ist zugleich die Richtung für die Art der Musik gegeben: echte Kirchenmusik, aus innerer Notwendigkeit heraus geschaffen, nach der wir in der Neuzeit vergeblich suchen.“[*]
Hier klingt schon an, dass sich auch das musikalische Repertoire gewandelt hatte: Besonders am Herzen lagen Drischner die „alten Meister“ (Bach, Schütz, Sweelinck u. a.) bis hin zur Gregorianik sowie die Einbindung des Gesangs in den liturgischen Gottesdienst. Damit setzte er neue Akzente in der evangelischen Kirchenmusik, die sich durch den Erfolg seines Chores schnell verbreiteten. So hatte der Chor größere Auftritte, als 1925 in Brieg die erste Schlesische Jugendmusikwoche stattfand, 1927 nahm er an der Dritten Tagung für deutsche Orgelkunst in Freiberg/Sachsen teil, und die Reputation Drischners trug dazu bei, dass 1929 die 31. Jahrestagung des Evangelischen Kirchengesangvereins für Deutschland nach Brieg verlegt wurde. Die Arbeit mit seinem Chor verdeutlicht, dass sich Drischner mit den Vorstellungen der Jugendmusikbewegung auseinandergesetzt hat und sie in die Kirchenmusik übertragen wollte. Dazu gehörte auch das gesellige Beisammensein, das er mit dem Chor pflegte, Ausflüge, Spiele bis hin zur Einrichtung eines Chorheims im elterlichen Garten.
1942 wurde Max Drischner zum Kirchenmusikdirektor ernannt. In der Begründung seiner Ernennung fanden erneut sein Engagement für die Neuausrichtung der Kirchenmusik sowie für die Restaurierung der Engler-Orgel Erwähnung.[*]
Neben der Liebe zur alten deutschen Musik hatte Max Drischner eine besondere Vorliebe für das Nordisch-Volkstümliche und die Musik Norwegens. Dies stand in direktem Bezug zu seiner Faszination für die norwegische Landschaft und Natur. Mehrmals unternahm er Reisen nach Norwegen, u.a. gemeinsam mit seinen Schwestern. Er knüpft dort neue Kontakte, wie beispielsweise mit Bischof Eivind Berggrav, einer führenden Persönlichkeit im norwegischen Widerstand gegen die deutschen Besatzer, sowie mit den Organisten und Komponisten Ludvig Nielsen und Arild Sandvold. Seine Reiseeindrücke inspirierten Drischner zu mehreren Kompositionen, denen teilweise nordische Volkslieder zugrunde liegen. Ausführlich beschreibt Drischner den Entstehungshintergrund oder auch seine Landschaftseindrücke in den Vorworten der Druckausgaben (AdJb N 165 u.a. Nr. 51, 54, 55). Die ausgeprägte Wendung zu einem „nordischen Ton“ in den 1930er Jahren ließe sich auch als Zugeständnis an den Nationalsozialismus deuten, allerdings ist, abgesehen von seinem Parteieintritt 1937,[*] eine aktive Betätigung Drischners in konkret nationalsozialistischer Ausrichtung nicht bekannt. Zwar verfasste er auch Kompositionen wie die Orgelhymnen „Heilig Vaterland“ und „Deutschland, heiliges Wort“,[*] und im Vorwort zur Ausgabe der „Nordischen Kanzonen“ erwähnt Drischner selbst auch positiv, dass mit den dazugehörigen Liedern „in den Kreisen der Hitler-Jugend“ „der Anschluß an das alte deutsche Volkslied über Jahrhunderte der Dürre hinweg wieder erreicht wurde“,[*] doch Aufführungen seiner Werke fanden nur im kirchlichen Kontext, v.a. im Rahmen von Orgelfeierstunden statt.
Mit der Vertreibung seiner Familie aus der schlesischen Heimat 1946 nach schweren Monaten in Prieborn nahm sein Leben eine tragische Wendung; dieser Einschnitt und der Verlust der Heimat belasteten ihn bis an sein Lebensende. Gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Schwester Margarethe (Grete) gelangte er zunächst in ein Umsiedelungslager in Magdeburg, wobei sie nur die nötigsten Habseligkeiten (darunter auch seine versteckten Noten) retten konnten. 1947 ergab sich eine erste neue Chance für Drischner als Kantor an der Augustinerkirche in Erfurt, schon bald wechselte er weiter nach Herrenberg bei Stuttgart, immer begleitet von seiner Mutter und seiner Schwester. Allerdings musste er aufgrund eines schweren Nervenleidens fünf Monate in der Tübinger Universitätsklinik behandelt werden. Ein Trost war ihm weiterhin die Freundschaft zu Albert Schweitzer, der ihm 1949 das erwähnte Klavichord schenkte. Doch ein neues Gefühl von Zugehörigkeit und Heimat erlebte Drischner erst wieder 1955, als es ihm möglich wurde, nach Goslar zu ziehen. Da Goslar seit 1950 Pate war für die vertriebenen Brieger und dort alle zwei Jahre Schlesiertreffen stattfanden, fand er hier eine heimatverbundene Umgebung vor. Auch seine Arbeit fand neue Anerkennung: 1956 zeichnete Goslar ihn mit dem Kulturpreis der Stadt aus, sein 70. und sein 80. Geburtstag waren Anlass für zahlreiche Würdigungen.
In der nahen Klosterkirche Grauhof befand sich eine Trautmann-Orgel, die im Klang „seiner“ früheren Brieger Orgel sehr ähnlich war. Mit den dort ansässigen Franziskanern knüpfte er Freundschaft, so dass er bis an sein Lebensende an dieser Orgel eine neue Heimstätte für seine Musik fand. Gemeinsam mit seiner Schwester Grete, die in den letzten Jahrzehnten seine Orgelpartnerin war, gestaltete er wieder Orgelfeierstunden, u.a. im Rahmen der Goslarer Schlesiertreffen. An dieser Orgel spielte Drischner auch seine Werke auf Schallplatte ein (AdJb N 165 Nr. 185). Gesundheitlich stark beeinträchtigt, blieb er bis kurz vor seinem Tod trotzdem noch aktiv als Organist. Max Drischner starb im April 1971, seine Schwester Grete folgte ihm nur wenige Monate später nach.
Von seinen Kompositionen fanden besonders die Weihnachtsgeschichte (Brieger Christnacht 1944) und der Sonnenhymnus für Orgel weite Verbreitung. Veröffentlicht wurden Drischners Werke zunächst im Breslauer Verlag Konrad Littmann, nach 1946 im Musikverlag Schultheiß in Tübingen, der 1995 vom Verlag Thomi-Berg übernommen wurde. Eine Eigenheit der Publikationen sind die ausführlichen Vor- oder Nachworte, in denen Max Drischner sehr detailliert und persönlich das Entstehungsumfeld beschreibt (z.B. die Norwegenreisen oder das heimatliche Prieborn) oder Erinnerungen an die Widmungsträger festhält (z.B. an Wanda Landowska oder Albert Schweitzer). Stilistisch ist seine Musik einfach, schlicht und auf Spielbarkeit angelegt; Drischner betonte selbst, dass es Gebrauchsmusik sei – auch darin spiegelt sich der Bezug zur Jugendmusikbewegung wider. Die Tatsache, dass in den Notenausgaben immer diverse Besetzungsvorschläge gemacht werden und die Stücke nicht auf ein Instrument festgelegt werden, charakterisiert die Werke ebenfalls als Gebrauchsmusik.
(af)