Olga Hensel
1885 - 1977

Olga Hensel, geb. Pokorny, wurde am 17. April 1885 in Theresienstadt (Böhmen) geboren. Die Tochter eines österreichischen Stabsoffiziers lebte durch berufsbedingte Ortswechsel des Vaters in ihrer Kindheit und Jugend an verschiedenen Orten – sie erlernte mehrere Fremdsprachen, darunter Italienisch, Tschechisch und Serbokroatisch, und vertiefte sich jeweils auch in das Volksliedrepertoire ihrer Umgebung. Besonders durch ihre Mutter, die mit schöner Stimme viel sang, wurde sie an die Musik herangeführt: „O schöne, lieb- und lieddurchwobene Kindheit!“, erinnert sich Olga Hensel.[*]
In Prag besuchte Olga Pokorny die Lehrerinnen-Bildungsanstalt, wo sie 1904 ihre Matura ablegte. Parallel zur Lehrerinnenausbildung nahm sie Gesangsunterricht (Alt) und trat auch bereits als Liedsängerin auf. Zwei gewinnbringende Jahre an der Lehrerakademie in Wien verbanden sich mit Gesangsunterricht und einem Eintauchen in das Wiener Musikleben. Nach der Rückkehr nach Prag führte Olga Pokorny ihre beiden Berufsrichtungen in einem besonderen musikalischen Engagement zusammen: Mit der befreundeten Musiklehrerkollegin und Pianistin Lulu Deutelmoser veranstaltete sie in Prag und im deutschböhmischen Bereich ca. 50 „Jugendkonzerte“, auch „Volkskonzerte“ gingen auf ihre Initiative zurück. Ihre Gesangsstudien setzte sie in diesen Jahren intensiv fort.

1912 begegnete sie durch die Vermittlung des Germanisten Prof. Adolf Hauffen Walther Hensel. Aus einem ersten gemeinsamen Auftritt im Rahmen einer Tagung des deutschen Sprachvereins entwickelte sich eine rege gemeinsame Konzerttätigkeit mit Volksliedabenden, bei denen Hensel die Altistin auf der Laute begleitete und auch selbst sang. 1919 heirateten sie, 1920 wurde der gemeinsame Sohn Herbert geboren. Es war übereinstimmenden Berichten zufolge Olgas Idee, eine erste „Singwoche“ zu planen. Anknüpfungspunkt waren die um die Pflege des deutschen Volkstums und der deutschen Kultur bemühten „Böhmerland-Wochen“ zu Beginn der 1920er Jahre mit ihren Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen. War das Chorsingen hier nur Beiwerk, sollte es bei einer „Singwoche“ als Aktivität im Zentrum stehen. So kam es im Sommer 1923 zur ersten Singwoche in der Waldsiedlung Finkenstein (bei Mährisch Trübau) mit ca. 80 Teilnehmern – Initialzündung für die nach diesem Treffen benannte Finkensteiner Bewegung (bald Finkensteiner Bund e.V.), die sich intensiv um das Volkslied, Chorsingen und Gemeinschaftserziehung bemühte. Olga Hensel war von der ersten Singwoche an als Stimmbildnerin tätig, Teilnehmerberichte loben ihre Tätigkeit vorbehaltlos und schreiben ihr erhebliche Anteile an dem besonderen Chorklang zu, der sich unter der kompromisslos-strengen Leitung Walther Hensels entwickelte. Eindrucksvoll beschreibt ein Rundbrief der Walther-Hensel-Gesellschaft, verfasst im März 1965 von Julius Hofmann und Hans Klein zum 80. Geburtstag Olga Hensels, wie sie schon auf der ersten Finkensteiner Singwoche die Stimmbildung „aus einer rein technischen Hilfsfunktion“ zu einem „höchst wirksamen Mittel der Gemeinschaftserziehung“ gehoben habe:
„Olga Hensel begann jeden Vor- und Nachmittag mit Atem- und Entspannungsübungen; dann forderte sie jeden einzelnen auf, zunächst unbewußt, dann beobachtend, zum ‚tönenden Atem‘ überzugehen; sie machte jedem klar, daß dieser unwillkürlich sich einstellende Ton für ihn weder ein besonders hoher noch tiefer sein könne, sondern als ‚Eigenton‘ ungefähr in der Mitte seines Stimmumfangs liegen müsse. Hatte jeder einzelne diesen Eigenton gefunden, dann ließ sie erst diese achtzig Eigentöne mit geschlossenen Lippen weitersummen – und was da entstand, war ein eigentümlicher Naturlaut, gemahnend an schwärmende Bienen oder fernes Glockengeläut. Die nächste Stufe bestand darin, daß die Singenden, eigentlich Summenden, allmählich anfingen, aufeinander zu hören und sich ohne jede Beeinflussung von außen auf einen Ton einigten. Unterdessen war jedem klar geworden, daß beim Summen mit geschlossenen Lippen alle Resonanzmöglichkeiten der Brust, der Mund- und Nasenhöhle und der Stirnhöhlen ausgenutzt worden waren; und jetzt kam der erregende Augenblick: zu versuchen, bei ganz locker fallendem Kinn sowohl die bisherige Atemführung als auch alle bereits vorhandenen Resonanzen beizubehalten; nun entstand jenes beglückende Zusammenfließen der Einzelstimmen zu dem erstrebten einheitlichen Chorklang, der nur erreicht werden kann, wenn jede Einzelstimme sich ihrer individuellen Besonderheit begibt und sich dienend einordnet in den Zusammenklang der singenden Gemeinde.“[*]


Zusammen mit ihrem Mann lebte Olga Hensel ab 1925 in Dortmund, wo Walther Hensel die neugegründete städtische Jugendmusikschule leitete. 1930 zog die Familie nach Stuttgart, damit Sohn Herbert die anthroposophische Schule besuchen konnte. Das vom (anthroposophischen) Architekten Helmuth Lauer erbaute Haus der Hensels im Stuttgarter Staibenäcker (Nr. 15) umfasste auch die „Finkensteiner Schule für Lied und Volk“ (eröffnet 1934), die aus einem einzigen großen Unterrichtsraum bestand. Hier wurden Monatslehrgänge und Schulungseinheiten angeboten, die auf die Ausbildung der Sing- und Sprechstimme und Chorarbeit konzentriert waren, zugleich aber auch Volksliedkunde und andere theoretische Weisung umfassten. Die Wege von Walther und Olga Hensel trennten sich jedoch bald, und nach dem Anschluss Sudetendeutschlands an das Reich 1938 kehrte Walther Hensel in die Heimat nach Teplitz zurück. 1939 erfolgte die Scheidung. Olga Hensel blieb in Stuttgart und war bis ins hohe Alter als Stimmbildnerin tätig: Eine Einladung zu einer Singwoche in Creglingen im Juli 1966 unter Leitung von Werner Gneist führt die über Achtzigjährige noch als Mitarbeiterin für Stimmbildung an (AdJb A 228 Nr. 8292)! Sie starb – nach einigen Lebensjahren im Alten- und Pflegeheim der Christengemeinschaft – am 19. September 1977 in Stuttgart.
Olga Hensel war schon früh überzeugte Anthroposophin, was sich – ohne dass sie es explizit gemacht hätte – in ihrer Chor- und Gesangsarbeit auswirkte und insbesondere in ihrer Schrift „Die geistigen Grundlagen des Gesanges“ (Bärenreiter, Kassel 1952) niederschlug. Neben etlichen Aufsätzen hatte sie bereits 1925 die – auch von Jöde gelobte – Schrift „Vom Erleben des Gesangs“ im Bärenreiter-Verlag herausgebracht, in der sie ihre in Finkenstein erprobten Prinzipien der Stimmbildung darlegt. Die Religiösität, die die Finkensteiner Bewegung kennzeichnete, wurde nicht zuletzt durch Olga Hensel mitgeprägt. Bezeichnend sind die Worte, die sie – „im Gedenken an die gemeinsame Tätigkeit“ – im November 1956 in ein Geburtstagsalbum für Fritz Reusch schrieb:
„Wer die Aufgabe hat, an der Stimme des Menschen zu arbeiten, möge erkennen, dass er berufen ist, dem zu dienen, was den Menschen vor allen andern Wesen auszeichnet, und ihn seiner Gottähnlichkeit näher bringen sollte.“[*]
(ub)