Phase der Dokumentation und Diskussion
Von Adorno bis Hodek

Nachdem die Akteure der Jugendmusikbewegung ihre Tätigkeiten in der Nachkriegszeit zunächst wieder mit Erfolg aufgenommen hatten, machte sich spätestens in den 1960er Jahren unter den allmählich alternden Mitbegründern der Bewegung und ‚Aktiven der ersten Stunde‘ erste Ernüchterung über ein nachlassendes Interesse bemerkbar. Die aktuellen Entwicklungen der musikalischen Jugendkultur konnten und wollten sie nicht in ihre Arbeit einbeziehen; sie standen vorher bereits schon dem Jazz skeptisch bis ablehnend gegenüber, Popmusik wurde gar nicht erst wirklich diskutiert. So brachten die Veränderungen in Jugendkultur und neuen Medien auch eine Verengung der Interessentenkreise mit sich.
Etwas jüngere Mitstreiter wie Gottfried Wolters und Willi Träder setzten in der Chorarbeit verstärkt auf ein höheres musikalisches Niveau, um der früheren niedrigschwelligen Volksbildung zu mehr Ansehen durch Qualität zu verhelfen. Stellenweise führte dies jedoch auch zu einer internen Diskussion bzw. einer Art von Generationenkonflikt, so berichtete Wolters über Fritz Jödes Sichtweise: „Wieviel Sorge bereitete ihm mein Abtreiben ins fast ‚Professionelle‘ – aber ich wollte aus dem üblichen Dilettantismus des Laienmusizierens heraus, wo er mich vielleicht ins ‚Elitäre‘ abschwimmen sah.“[*]
Mit derartigen Veränderungen in der inneren und äußeren Wahrnehmung richtete sich die Diskussion vermehrt auf Sinn, Zweck und Reputation des eigenen Tuns. Diese Selbstreflexion ging einher mit einem sukzessiv zunehmenden Interesse an einer Konservierung der Geschichte wie auch der Arbeitsziele und -erfolge der Bewegung, das in die Gründung des Archivs der Jugendmusikbewegung 1959 mündete. Mit großer Akribie widmeten sich von da an Hauptakteure wie Jöde, Herbert Just, Heinrich Schumann und Ekkehart Pfannenstiel der Aufgabe, Dokumente, Fotos und Tonträger zu den Personen und Aktivitäten der Bewegung zusammenzutragen. Vor allem für Pfannenstiel wurde es geradezu der Hauptinhalt seines letzten Lebensabschnitts, das Archiv mit Material zu füllen. Diese Phase der Konservierung und Archivierung wird besonders gut im Archivbestand widergespiegelt, da insbesondere auch die Korrespondenzen zur Materialbeschaffung erhalten sind.
Teil der zunehmenden Verunsicherung war nicht zuletzt eine beginnende kritische Diskussion der Jugendmusikbewegung in der Öffentlichkeit. Den Auftakt machte Theodor W. Adorno, der bereits zu Beginn der 1950er Jahre die Ausrichtung und Aktivitäten der Jugendmusikbewegung in Frage zu stellen begann. Ausgehend von einer auf die Musikpädagogik gerichteten Perspektive kritisierte er eine Rückwärtsgewandtheit und eine Verneinung des musikalischen Fortschritts, um vor allem die ideologische und gesellschaftliche Haltung der Jugendmusikbewegung auf den Prüfstand zu stellen. Insbesondere warf er eine historische Nähe zur NS-Ideologie auf und brachte den Begriff des „Faschismus“ ins Spiel. Daran knüpfte der Adorno-Schüler Heinz-Klaus Metzger mit seinem Artikel „Musikalischer Faschismus“ 1957 noch einmal zuspitzend an. Von Seiten der Jugendmusikbewegung nahmen u.a. Wilhelm Twittenhoff und Wilhelm Ehmann als Wortführer den Faden auf und lieferten sich mit Adorno eine in Texten und Gesprächen bis 1959 anhaltende Debatte. Einige der Diskussionen selbst liegen im Archivbestand auf Tonband vor, aber auch Sitzungsprotokolle und Korrespondenzen geben wieder, wie sich die Akteure der Jugendmusikbewegung von Adorno provoziert und persönlich angegriffen fühlten. [mehr]

Einen weiteren Schritt unternahmen die Musikpädagogen Helmut Segler und Lars Ulrich Abraham: Sie nahmen das musikpädagogische Liedgut in den Blick und legten eine unreflektierte Beibehaltung bzw. Wiederaufnahme von früherem HJ-Liedgut in Schulliederbüchern bloß. Abraham verwies bereits 1963 in seinem Aufsatz „Lied und Liederbuch in der Schule“ auf die Problematik von ideologisiertem Liedgut. Auch hier bezog sich die Kritik vorwiegend auf die Kreise der Jugendmusikbewegung. Besonders betroffen war Gottfried Wolters, da Segler und Abraham in ihrem 1966 veröffentlichten Band „Musik als Schulfach“ eine kritische Analyse des von Wolters (mit Renate Krokisius) 1963 herausgegebenen Liederbuches für die Mittel- und Oberstufe „Singende Schule“, Band 2, publizierten, in dem sie ihm anhand von konkreten Beispielen die Einbeziehung von Liedgut der HJ vorwarfen. Nicht nur in Rezensionen, sondern in zahlreichen journalistischen Artikeln wurde diese Problematik aufgegriffen und in der Öffentlichkeit weitergeführt. Spielte diese Debatte auch eine Rolle in den Korrespondenzen und Gesprächsprotokollen des AdJMb, so ist ein wichtiger Materialbestand zu diesen Vorgängen vor allem im Nachlass von Gottfried Wolters zu finden. Unter anderem wird dort ersichtlich, dass die 1966 publizierte Analyse an ein internes Gutachten aus dem Jahr 1963 angelehnt ist und dass in den Kreisen um Wolters an Stellungnahmen und Revisionen der Darstellung gearbeitet wurde. [mehr]
Diese öffentlichen Diskussionen und Vorwürfe der Nähe zum Nationalsozialismus riefen unter den derart angegriffenen Akteuren der Jugendmusikbewegung unterschiedliche Reaktionen hervor. Auch wenn bereits aus frühen Sitzungsprotokollen nach 1945 hervorgeht, dass durchaus ein Bewusstsein dafür vorhanden war, dass manche Persönlichkeiten der Jugendmusikbewegung historisch belastet waren, resultierte daraus kein offener Umgang im Sinne einer Vergangenheitsbewältigung. Im Gegenteil war in den 1960er Jahren sogar Teil der internen Diskussionen, belastende Dokumente in einem „Geheim- bzw. Klausurarchiv“ vor der Öffentlichkeit zu verschließen (siehe AdJb A 228 Nr. 233). Andererseits zählte eine selbst stark belastete Person wie Wolfgang Stumme zu den Antriebskräften, die versuchten, eine eigene Aufarbeitung der NS-Vergangenheit anzustoßen. Die öffentliche Stimmung war ihm und einigen Kollegen wie Ekkehart Pfannenstiel noch einmal mehr Anreiz, offen mit der Vergangenheit umzugehen und ihre Tätigkeiten in der NS-Zeit auch im Archiv zu dokumentieren. Doch sie bildeten eine Minderheit in ihren Kreisen, und der mehrfache Versuch, eine allgemeine Aufarbeitung anzuregen und Kollegen zur Partizipation im Prozess der Dokumentation zu gewinnen, stieß auf wenig Interesse. In seinen letzten Lebensjahren stellte Stumme selbst eine umfangreiche Sammlung von Materialien und Dokumenten zur Musikarbeit in der HJ zusammen, die sich im Nachlass Stumme befindet (AdJb N 247 Nr. 3-12). [mehr]
Nachdem bereits 1952 Reinhart Stephani eine erste Dissertation über „Die deutsche musikalische Jugendbewegung“ verfasst hatte, ermöglichte die umfangreiche Sammlung im Archiv spätestens ab den 1970er Jahren eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema der Jugendmusikbewegung. Interesse war sicherlich nicht zuletzt auch durch die konfliktreiche Debatte der vorangegangenen Jahre geweckt worden. Zwei Arbeiten rückten dabei für die Kreise um den AdJMb-Verein besonders in den Fokus: Johannes Hodek nahm 1975 die Adorno-Diskussion als Ausgangspunkt, um die ideologische Ausrichtung und die Verlagsbeziehungen der Jugendmusikbewegung zu thematisieren, Dorothea Kolland erarbeitete 1977 einen geschichtlichen Überblick der Bewegung. Aus ihrer persönlichen Involviertheit heraus beurteilten die Betroffenen diese Arbeiten besonders kritisch und begegneten ihnen mit großer Skepsis, da sie sich von den an der Bewegung unbeteiligten Wissenschaftlern unverstanden fühlten. In Korrespondenzen und Diskussionen nehmen diese großenteils negativen Bewertungen daher ebenfalls einen nicht geringen Raum ein. [mehr]

Dieser Anspruch auf eine Dokumentation nach eigenen Vorstellungen kombiniert mit einem Bewusstsein eines gewissen Wissensmonopols und dem Wunsch, der Nachwelt ein umfassendes Bild von der Jugendmusikbewegung zu hinterlassen, mündete schließlich, ausgehend von der archivischen Sammlung, in der eigenen Zusammenstellung eines Dokumentationsbandes. Das Projekt beschäftigte die Vereinsmitglieder einige Jahre, im Jahr 1980 konnte der Band schließlich gedruckt werden. Die ausgiebigen Diskussionen zu Anlage, Format und Inhalten lassen sich in Tonbandaufnahmen und Protokollen nachvollziehen. Dass die Materialsammlung mit dem Jahr 1933 endete, war für einige der Beteiligten, wie u.a. Wolfgang Stumme, nicht ausreichend. Auch hier setzte er sich (erfolglos) für einen Fortsetzungsband zu den Jahren 1933-1945 ein. Letztendlich war jedoch auch das hohe Alter der ehemaligen ‚Aktiven‘ ein Grund dafür, dass es nicht mehr zu einem Fortsetzungsband kam. Die letzten Akteure starben in den 1980er Jahren.
(af)