Jugendbewegung und Musik
Die Volksliedzeit im Wandervogel und frühe Kritik an der Musikpraxis
Singend umherziehende oder im Freien lagernde Horden mit Gitarren und anderen Instrumenten – das ist ein Bild von der Jugendbewegung, wie es jeder kennt. Im Wandervogel spielte Musik von Beginn an eine wichtige Rolle: „Volks-, Turner- und Kommerslieder, aber auch schaurige Balladen und ‚wilde Gesänge‘, Bänkelsängerlieder und Moritaten“ begleiteten die „Flucht der Jugend in die Natur“.[*] Kultureller Anspruch verband sich mit dem geselligen Singen zunächst einmal nicht, textliche und musikalische Qualität waren kein Kriterium für die Wahl der Lieder. Das unbekümmerte gemeinschaftliche Singen wurde begleitet von Gitarre, Laute, Mandoline, Mund- oder Ziehharmonika.
„Des Wandervogels Liederbuch“ von 1905 ist das erste umfangreichere Druckwerk für die Musikpraxis des Wandervogels. Das Bändchen – „in der Mannigfaltigkeit seines Inhalts ein Spiegelbild unsres ganzen buntscheckigen Wandervogellebens“, wie das Vorwort anmerkt – umfasst bereits einige zuvor weitgehend unbekannte Volkslieder. Zum Markstein wurde aber der „Zupfgeigenhansl“, herausgegeben 1909 vom Medizinstudenten Hans Breuer. Breuer griff besonders auf ältere Volksweisen zurück und begründete dies in einem Vorwort, das Wertmaßstäbe einführt:
„Wir aber sagen: die Güte eines Liedes erprobt sich an seiner Dauerhaftigkeit: was hier gebracht wird, hat seit Wandervogels Anbeginn eine unverwüstliche Lebenskraft bewiesen, nein viel mehr, das hat Jahrhundert um Jahrhundert im Volke fortgelebt. Was der Zeit getrotzt, das muß einfach gut sein.“
Der „Zupf“, wie er bald genannt wurde, verbreitete sich rasant und begründete die „Volksliedkultur des Wandervogel“:
„In ihr erreichte die Jugendbewegung scheinbar spielend das, was der Schule selbst in langer Arbeit nicht gelingen sollte: die Wiedererweckung des deutschen Volksliedes.“[*]
Das Volkslied verband sich mit der Vorstellung des natürlichen, ganzheitlichen Lebens einer Zeit, die noch nicht unter der Industrialisierung und ihren Folgen gelitten hatte.
Es ist bezeichnend, dass im „Zupf“ einige Seiten für eigene Eintragungen freigelassen waren, und der Appell zum Weitersammeln blieb nicht ungehört. Weitere Liedersammlungen folgten, verbunden mit der wechselvollen Geschichte des Wandervogels und seiner Gruppierungen. Zahlreiche „Neutöner“, oft ohne das nötige musikalische Handwerkszeug, versuchten sich in den Folgejahren auch im Schreiben neuer „Volks“-Lieder, die dem Lebensgefühl des modernen Menschen einen natürlichen Ausdruck geben sollten. Zunehmend boten Liederblätter und -bücher auch Akkordbezeichnungen für die Begleitung an, die sich von anfänglicher Einfachheit unter Beteiligung von Lautenisten wie Heinrich Scherrer und Robert Kothe zu größerer Komplexität ausweitete. Dabei setzte sich die Gitarre („Zupfgeige“) als Begleitinstrument durch.
Mehr und mehr aber wurde Kritik an der elementaren Musikausübung des Wandervogels laut. Wortführend war hier der Reformpädagoge Gustav Wyneken, der den „bloßen Stimmungsgenuss“ brandmarkte, das Volkslied als „Vorkunst“ betrachtete und eine Konzentration auf tatsächliche Kunst einforderte.
In der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, 1906 von Wyneken und anderen gegründet, spielte die künstlerisch-musische Erziehung eine große Rolle. Hier war es der Komponist, Musikschriftsteller und Musiklehrer August Halm, der seine – in der Vorliebe für Bach, Beethoven und Bruckner durchaus persönlich gefärbten – Maßstäbe setzte, mit denen Wyneken konform ging: Nur als hochwertig erachtete Musik wurde angeboten, eine fundierte Beschäftigung mit musikalischen Meisterwerken im Schulalltag etabliert. Das Musizieren und überhaupt die Beschäftigung mit Musik wurden zu einem integralen Bestandteil der Erziehung in der Wickersdorfer Schul- bzw. Lebensgemeinschaft. Der ausgeprägte qualitative Anspruch, der an die Musik gestellt wurde, war dabei völlig neu.
Es mag fast als ein Paradoxon erscheinen, dass die „Jugendmusikbewegung“, die sich später immer wieder dem Vorwurf des Dilettantismus ausgesetzt sah, von der Einführung von Wertmaßstäben und der Forderung musikalischer Qualität ihren Ausgang nahm. Ihren Beginn markiert der Übergang von einer rein geselligen Musikpraxis in der Jugendbewegung zu einer pädagogischen Bewegung, die letztlich auf die Erneuerung des gesamten Musiklebens zielte – einer pädagogischen Bewegung, die einerseits Selbsterziehung einforderte, andererseits aber auch nach fähigen „Führern“ Ausschau hielt und letztlich weitgehend von Erwachsenen getragen wurde. Facettenreich beleuchtet diesen Übergang der von Fritz Jöde 1918 herausgegebene Band „Musikalische Jugendkultur“. Diese Anthologie, die Dokument einer Suche ist, kreist um die Unzufriedenheit mit der kritik- und kenntnislosen Musizierpraxis der Jugendbewegung, um die Etablierung von Wertmaßstäben und um die Begründung einer „musikalischen Kultur“, einer Wahrnehmung von Musik als Kunst also, die gleichwohl einen gemeinschaftsbildenden Aspekt bewahrt. In Kunstanspruch und pädagogischem Impetus unterscheidet sich die Jugendmusikbewegung kategorial von der unbekümmerten Musikpraxis der frühen Jugendbewegung.
(ub)