Walter Blankenburg
1903-1986
[Materialbestand in AdJb A 228]
Walter Blankenburg wurde am 31. Juli 1903 geboren und wuchs, zusammen mit seinem nur ein Jahr älteren Bruder, in einem Pfarrhaus in Emleben auf. Von 1913 bis 1919 besuchte er das humanistische Gymnasium im nahen Gotha. Seinen Schulabschluss erwarb er 1922 am Gymnasium von Altenburg, wohin die Familie 1919 gezogen war. Durch einen Lehrer des Gymnasiums kam er dort als Sechzehnjähriger in Kontakt zur Jugendbewegung der Nachkriegszeit und trat zusammen mit seinen Mitschülern dem Jungnationalen Bund bei. „Wandern – Singen – Gitarre spielen!“ – so umreißt Annemarie Blankenburg diese Erfahrung in biografischen Aufzeichnungen nach dem Tod ihres Mannes (siehe AdJb A 228 Nr. 801).
Nach dem Abitur begann Blankenburg ein Theologie-Studium in Rostock. Schon ein Jahr später ging er nach Tübingen. In seinen theologischen Vorstellungen wurde er maßgeblich durch die Vorlesungen Professor Adolf Schlatters geprägt. Schon in der Tübinger Zeit trat die Beschäftigung mit Kirchenmusik, die lebenslang eine zentrale Rolle spielen sollte, an die Seite der Theologie: Zusammen mit Erich Vogelsang und Felix Messerschmid gründete Walter Blankenburg 1923 den „Bachkreis Tübinger Studenten“; der ambitionierte Chor unternahm bereits im März 1924 eine Singfahrt nach Schweden (siehe AdJb A 228 Nr. 791). Nach dem erneuten Wechsel des Studienortes schon ein Jahr später gründete Blankenburg, wiederum zusammen mit Erich Vogelsang, in Göttingen den „Bachkreis Göttinger Studenten“. Mit den beiden auf die Musik Bachs konzentrierten Chorgründungen in Tübingen und Göttingen wurden Walter Blankenburg und Erich Vogelsang, der als Chorleiter fungierte, zu wichtigen Exponenten der (kirchen)musikalischen Rückwendung zur barocken und vorbarocken Musik, die sich in dieser Zeit Bahn brach – während das Musikleben sonst noch fast vollständig von der romantischen Musik des 19. Jahrhunderts dominiert wurde und die Aufführung Bachscher Chormusik noch weitgehend auf die Leipziger Thomaskirche beschränkt war. Die rückblickende Schilderung Annemarie Blankenburgs beleuchtet die Situation eindrücklich:
„Damals, in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre, war Göttingen noch eine stille kleine Universitätsstadt, es gab noch keinen Straßenlärm. Und so konnte es sich dieser kleine Chor leisten, wie frühere Kurrende-Knaben, auf den Straßen zu singen. Etwas vollkommen Neues: Bachmusik auf der Straße! Als sie in einer Adventszeit den fünf-stimmigen […] Bach-Choral ‚Vom Himmel hoch, da komm ich her...‘ im Licht einer Straßen-Laterne anstimmten, hörte das der Musikwissenschaftler Heinrich Besseler (später als Professor in Freiburg, Heidelberg, Leipzig) und stürzte auf die Straße, um die Menschen zu sehen, die diese Musik kannten und praktizierten, und schloß sich ihnen von da an oftmals an.“[*]
Auch der Göttinger Chor unternahm frühzeitig Singfahrten (zwei Programme in AdJb A 228 Nr. 805 dürften einer schon 1925 angetretenen Reise nach Ostpreußen und ins Baltikum zuzuordnen sein). Mitglied des Chores, der sich zunehmend auch älterer Musik annahm, war auch Wilhelm Kamlah, führender Kopf der kurz darauf einsetzenden Schütz-Renaissance. Anschaulich beschreibt Annemarie Blankenburg die Atmosphäre jener Jahre:
„Und nun begann eine unaufhörliche Entdeckungssuche nach alter, zumeist geistlicher Musik: Auf Schütz folgten Schein und Scheidt, Isaak, Haßler u.s.w. Der Bärenreiter-Verlag in Kassel und Kallmeyer-Verlag in Wolfenbüttel verdanken dieser Bewegung ihren damaligen Aufstieg. Es war eine Zeit ununterbrochener Entdeckerfreude. Die Handschrift der ‚Lechner-Passion‘ z.B. wurde von dem Abiturienten Walter Lipphard [Walther Lipphardt] in Kassel entdeckt und von ihm veröffentlicht. Chorbücher wurden zusammengestellt und von den Verlagen gedruckt. Walther Hensel brachte altes Liedgut aus dem südöstlichen Lebensraum in den ‚Finkensteiner Blättern‘ heraus. Überall im Land gab es Singwochen, etwas völlig Neues! In Hessen spielte die Burg Ludwigstein eine zentrale Rolle, leicht erreichbar von Göttingen und von Kassel aus. Die Begeisterung jener Jahre ist heute [1991] nicht mehr vorstellbar: Gemeinschaft im Singen durch eine Woche durch, verbunden mit Entdeckerfreude unbekannten alten Liedguts!“[*]
1926 nahm Walter Blankenburg am Führertreffen der Musikantengilde in Brieselang teil, das – nicht zuletzt wegen der Anwesenheit Paul Hindemiths und anderer zeitgenössischer Komponisten – einen Meilenstein in der Geschichte der Jugendmusikbewegung markiert; hier sprachen auch Friedrich Blume über „Heinrich Schütz und die protestantische Kirchenmusik“ und Hans Mersmann über „Vokale Polyphonie des 16. Jahrhunderts“. Nach dem 1926 erworbenen Theologischen Staatsexamen in Göttingen wandte sich Walter Blankenburg der Musikwissenschaft zu und studierte 1927/28 in Freiburg bei Wilibald Gurlitt und Heinrich Besseler. Von Freiburg aus nahm Blankenburg auch 1927 wieder am Treffen der Musikantengilde in Lichtental bei Baden-Baden teil. Stand hier – erneut in Anwesenheit Hindemiths – die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik im Vordergrund, ist doch ein weiteres Mal der Brückenschlag zur Alten Musik kennzeichnend. So erklangen z. B. einige Werke Bachs in diesen Tagen, darunter das „Musikalische Opfer“. Walter Blankenburg war fest im Kreis der Jugendmusikbewegung verankert und zählte zu denjenigen, die sowohl zu den Finkensteinern als auch zur Musikantengilde in direkter Verbindung standen. Er prägte die Begegnungen zwischen Jugendmusikbewegung und Kirche mit, die in dieser Zeit offiziellen Charakter bekamen („Spandauer Gespräche“, 1927/28), unter Beteiligung von Persönlichkeiten wie Fritz Jöde, Fritz Reusch, Konrad Ameln, Gerhard Schwarz, Wilhelm Stählin, Erich Vogelsang, Christhard Mahrenholz und Wilhelm Kamlah. Rasch etablierte sich der Begriff der „kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegung“ (Alfred Stier, 1927), der eine Orientierung an der Singbewegung einschloss. Als eine konkrete Folge der Spandauer Begegnungen ist die Gründung der „Evangelischen Schule für kirchliche Volksmusik“ unter Leitung von Fritz Reusch im Johannesstift in Berlin-Spandau 1928/29 anzusehen, die sich bald auf die Fachausbildung konzentrierte und als erste deutsche Kirchenmusikschule gelten kann. 1929 gründeten Blankenburg, Christhard Mahrenholz und Karl Vötterle auch die Zeitschrift „Musik und Kirche“, die zum maßgeblichen Periodikum der evangelischen Kirchenmusik wurde (von 1941 bis 1981 hatte Blankenburg selbst die Schriftleitung inne).
Blankenburg beendete seine Studienzeit mit den Staatsexamina in Musikwissenschaft und Geschichte in Göttingen 1929. Zuvor hatte er im Sommersemester 1928 aber auch bereits als Assistent an der Apologetischen Zentrale am Johannesstift in Berlin-Spandau gewirkt. Hier kam er erstmals in Verbindung mit dem Berneuchener Kreis, der der Jugendbewegung nahestand und eine grundlegende Reform der evangelischen Kirche und ihrer Liturgie anstrebte. Walter Blankenburg blieb den Berneuchenern bzw. der aus ihnen hervorgegangenen Michaelsbruderschaft, zu der auch der Leiter des Bärenreiter-Verlags Karl Vötterle gehörte, lebenslang verbunden.
Theologie und Musikwissenschaft, die beiden Eckpfeiler der Ausbildung Walter Blankenburgs, fanden ihre natürliche Verbindung in der Kirchenmusik. Und die Beschäftigung mit Kirchenmusik begleitete Blankenburgs ganzes Leben, auch wenn er sich hauptberuflich zunächst zur Theologie orientierte und sich – nach zwei Jahren im Schuldienst – entschloss, Pfarrer zu werden. Nach der Hochzeit mit Annemarie Blankenburg (geb. Weber, 1931) absolvierte er 1932/33 seine Vikariatszeit in Grebenstein bei Kassel. Parallel war er Leiter der von Karl Vötterle gegründeten Schule „Lied und Volk“ (siehe Dokumente in AdJb A 228 Nr. 805) und übernahm 1932 als Nachfolger von Heinz Ameln die Leitung der Kasseler Singgemeinde, die er, von den letzten beiden Kriegsjahren unterbrochen, bis 1947 innehatte (Dokumente zur Frühzeit der Singgemeinde finden sich in AdJb A 228 Nr. 749 und Nr. 809).
Nach dem Zweiten Theologischen Examen (Hofgeismar 1933) wurde Walter Blankenburg am 1. April 1933 Hilfspfarrer in Vaake-Veckerhagen (Reinhardshagen), ein Jahr später ordentlicher Pfarrer. Auch die Chöre der Gemeinde leitete er. Während des Zweiten Weltkriegs wurde Blankenburg mit einer Arbeit über „Die innere Einheit von Bachs Werk“ zum Dr. phil. promoviert (bei Hermann Zenk, Göttingen). 1943 erfolgte die Einberufung zum Militärdienst mit einem Einsatz in Rußland. Von Juni 1944 bis September 1945 war Blankenburg im ostholsteinischen Internierungslager „Kral“ in Kriegsgefangenschaft.
Die Zeit in Vaake, in der auch die vier Kinder der Blankenburgs geboren wurden, endete bald nach dem Krieg: 1947 siedelte die Familie nach Schlüchtern über. Mit diesem Umzug begann eine neue Tätigkeit: Walter Blankenburg wurde Leiter der neu gegründeten Kirchenmusikschule in Schlüchtern (Evangelische Kirche Kurhessen-Waldeck), eine Stelle, die er bis zu seiner Pensionierung 1968 innehatte (zu dieser Kirchenmusikschule siehe Bericht von Annemarie Blankenburg in AdJb A 228 Nr. 800). Fast während der gesamten Zeit leitete er auch die „Direktorenkonferenz der evangelischen kirchenmusikalischen Ausbildungsstätten Deutschlands“ und prägte maßgeblich das Berufsbild des Kirchenmusikers.
Der Gedanke einer unauflöslichen Verbindung von Kirchenmusik und Verkündigung ist fundamental für die zahlreichen Kirchenmusikschulgründungen der Nachkriegszeit, und er ist auch ein zentrales Diktum Walter Blankenburgs. Das Augustinus zugeschriebene Wort „bis orat qui cantat“ (doppelt betet, wer singt!) bringt den Anspruch an die Kirchenmusik prägnant zum Ausdruck. Das Postulat der engen Verbindung von Kirchenmusik und Verkündigung war auch grundlegend für die musikwissenschaftliche Betätigung Walter Blankenburgs, die er im Ruhestand noch einmal intensivierte: In ihrem Zentrum stand immer die Botschaft der (kirchenmusikalischen) Werke. Es ist kennzeichnend, wenn er im Vorwort seiner – an einen breiteren Leserkreis gerichteten – Abhandlung zu Bachs Weihnachtsoratorium schreibt: „Nicht allein in einer bloßen Werkbeschreibung und in Analysen sehen wir unsere Aufgabe, sondern darüber hinaus in der Hermeneutik, der Sinndeutung von Bachs Musik.“[*] In der 1976 zusammen mit Renate Steiger gegründeten „Internationalen Arbeitsgemeinschaft für theologische Bachforschung“ ist bereits der Name ein Indikator für die Ausrichtung auf theologische Inhalte. Der Musik Bachs, in deren Zeichen die musikalische Betätigung mit dem „Bachkreis Tübinger Studenten“ einst begonnen hatte, blieb Blankenburg sein ganzes Leben über eng verbunden; von 1951 bis zu seinem Tod gehörte er auch Leitungsgremien der Neuen Bachgesellschaft an.
Walter Blankenburg starb am 10. März 1986 in Schlüchtern.
(ub)