Walther Hensel
1887-1956

Walther Hensel wurde am 8. September 1887 in Mährisch-Trübau als Julius Janiczek geboren. Der später geführte Name Hensel gilt als Übersetzung des Geburtsnamens Janiczek, während der angenommene Vorname Walther mit der Verehrung für Walther von der Vogelweide in Zusammenhang stehen soll.
Bis 1906 besuchte Walther Hensel das Trübauer Gymnasium, wo ihm von seinem Lehrer Franz Spina, später Professor für Bohemistik, bereits die Begeisterung für das Schönhengster Brauchtum und das Interesse am deutsch-mährischen Liedgut vermittelt wurden. Hensel studierte in Wien, Freiburg (Schweiz) und Prag. Begann er in Wien mit einem Studium der klassischen Philologie, das er durch Harmonielehre- und Kontrapunktstudien bei Hermann Grädener ergänzte, orientierte er sich bald zum Studium der Germanistik und Romanistik (Französisch). In Freiburg besuchte er parallel Vorlesungen des Gregorianikforschers Peter Wagner über mittelalterliche Musik. Seine vom Dialektforscher Primus Lessiak betreute Dissertation mit dem Titel „Der Vokalismus der Mundarten in der Schönhengster Sprachinsel“ wurde 1911 in Freiburg (Schweiz) gedruckt. In Prag setzte Hensel das Lehramtsstudium fort und erhielt von dem zeitgleich von Freiburg nach Prag berufenen Lessiak den Auftrag zur Volksliedfeldforschung in Kärnten (Sommer 1912 und 1913). Tiefgreifende Volksliedsammeltätigkeit und wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Volkslied folgten über lange Zeit. 1912 wurde Hensel, nachdem er die staatliche Lehramtsprüfung absolviert hatte, Lehrer für Deutsch und Französisch an der Deutschen Handelsakademie in Prag – eine Stellung, die er bis 1918 bekleidete.
Parallel wandte Hensel sich volksbildnerischen Aufgaben zu, die nach der Gründung des Tschechischen Nationalstaates 1918 durch die zwangsweise Eingliederung der in Böhmen, Mähren und Schlesien lebenden Deutschen in den slawischen Staat an kultureller Dringlichkeit gewannen und die Deutschen zum Volkslied als eigenem Kulturgut und zum Singen führen sollten: Als fähiger Lautenist und Sänger gab er – auch bereits mit seiner späteren Frau, der Sängerin Olga Pokorny – Volksliedabende, wirkte an Volksbildungswochen („Böhmerland-Wochen“) mit und gab erste Liedsammlungen heraus. Auch im sudetendeutschen (bzw. deutschböhmischen) Wandervogel, zu dessen Mitbegründern Janiczek 1911 gehörte, hatte er jahrelang Leitungsfunktionen inne und war zudem – wie auch im Rahmen der böhmerländischen Freischaren – mit dem Singen betraut. Der Trübauer Wandervogel war auch der Kern für die erste „Singwoche“, die Hensel zusammen mit seiner Frau Olga im Juli 1923 durchführte. Zahlreiche weitere Singwochen folgten, schon nach wenigen Wochen auch die erste auf reichsdeutschem Gebiet in Gnadenfrei (Schlesien). Etliche „Singgemeinden“ gründeten sich infolge der Singwochen, um das Singen am jeweiligen Heimatort fortzusetzen.

Als organisatorischer Überbau der Singgemeinden wurde 1923 der Finkensteiner Bund begründet, benannt nach dem Veranstaltungsort der „Ursingwoche“. Hensel selbst war hier kaum involviert, federführend wurde vielmehr Richard Poppe. Der im Zeichen der Jugendbewegung gegründete Bärenreiter-Verlag Karl Vötterles – Vötterle zählte zu den Teilnehmern der Finkensteiner Singwoche – übernahm mit der Herausgabe der „Finkensteiner Blätter“ (1923-1933) die Verbreitung des Liedguts und stellte sich auch mit Zeitschriftpublikationen („Die Singgemeinde“) in den Dienst des Finkensteiner Bundes. In seiner Chorarbeit wurde Hensel durch seine mitreißende Art, die sich mit unerbittlicher Strenge verband, von den Teilnehmern seiner Singwochen hoch geschätzt – auch wenn er zugleich als sehr ernst, unnahbar und menschlich kompliziert wahrgenommen wurde. Sein Qualitätsanspruch bezog sich auf Liedgut und Ausführung gleichermaßen, vehement wehrte er sich gegen sentimental-seichte „Schundlieder“. Viele Berichte von Zeitgenossen schildern regelrechte Wutausbrüche Hensels über minderwertige Lieder.




Ab Ende 1925 leitete Hensel in Dortmund die neu gegründete Städtische Jugendmusikschule und übernahm dort auch das Amt des Jugendmusikpflegers. Überdies gründete er in Dortmund eine starke „Singgemeinde“. 1930 verlagerte die Familie Hensel ihren Lebensmittelpunkt nach Stuttgart, damit der 1920 geborene Sohn Herbert die dortige Waldorf-Schule besuchen konnte. Walther Hensel wirkte an der Volkshochschule und baute auch in Stuttgart wieder eine Singgemeinde auf. Im von Helmuth Lauer erbauten Privathaus der Hensels am Stuttgarter Staibenäcker wurde 1934 die „Finkensteiner Schule für Lied und Volk“ eingerichtet, die aus einem einzigen großen Unterrichtsraum bestand. Hier wurden für kurze Zeit Monatslehrgänge und Schulungseinheiten angeboten, die auf die Ausbildung der Sing- und Sprechstimme und Chorarbeit konzentriert waren, zugleich aber auch Volksliedkunde und andere theoretische Inhalte umfassten. Volkslied und Choral standen durchgängig im Zentrum von Walther Hensels Arbeit. Reisen führten das Ehepaar Hensel auch ins Ausland, insbesondere nach Finnland.

Ende 1938, nach dem Anschluss des Sudetenlandes an das Reich, ließ sich Hensel in der sudetendeutschen Heimat nieder und lebte erst in Reichenberg, dann in Teplitz. 1939 erfolgte die Scheidung von Olga Hensel, die in Stuttgart geblieben war. Eine letzte Singwoche fand 1939 in Neutitschein in Ostmähren kurz vor Ausbruch des 2. Weltkrieges als KdF-Veranstaltung statt, wobei Rudolf Pechhold berichtet, dass Hensel an den auferlegten Übungsstunden für „Lieder der Bewegung“ nicht teilnahm und seine Haltung diesem Liedgut gegenüber deutlich erkennen ließ, was bei den Veranstaltern Anstoß erregte.[*] Es liegt zunächst einmal nahe anzunehmen, dass hier eher ein Qualitätsurteil als eine ideologische Ablehnung zum Tragen kam, verfasste Hensel doch selbst Melodien zu einzelnen Texten von NS-Dichtern, insbesondere zu „So gelte denn wieder Urväter Sitte/ Dem Führer“ von Will Vesper („Dem Führer“, um 1935, siehe AdJb A 228 Nr. 889); dieses Lied leitet auch Hensels Liederbuch „Weg und Ziel. Des Singenden Quells 3. Teil“ von 1936 ein, als etwas abweichend gesetztes Eröffnungslied in der Position einer Widmung. Weggefährten berichten allerdings von einer Distanz Hensels zum Nationalsozialismus, so etwa Karl Vötterle: „Dem Ungeist der NS-Zeit stand er mit Frau Olga warnend und einsam gegenüber. Die Jahrgänge der Zeitschrift ‚Klingende Saat‘ beweisen es.“[*] Ein hiermit konform gehendes Bild zeichnet aus der Erinnerung 1965 der im brasilianischen Exil lebende, Jöde und der Musikantengilde nahestehende Erwin Oesterreicher, der Walther Hensel bei einer Abendsingwoche Ende 1933 in Berlin kennenlernte und ein unverdächtiger Zeuge ist:
„Sehr beeindruckt hat mich damals, dass er, der ja aus der ultravölkischen ‚Böhmerländischen Freischar‘ gekommen war, nun, gerade 1933 in Berlin, unermüdlich und furchtlos vor verblendetem und verderblichem Nationalismus warnte, uns tschechische Lieder, im Original und in seinen Übersetzungen, vorsang und immer wieder die Versöhnung mit Tschechen und sonstigen Nachbarvölkern verlangte und eindringlich mahnte, die Mission des Deutschtums in Mitteleuropa nicht machtmässig sondern geistig verpflichtend aufzufassen. Anhänger und Schüler, die noch ganz im Walther Hensel von 1919 lebten, wollten ihm eine ‚Audienz beim Führer‘ verschaffen; er hat es schroff abgelehnt, Hitler zu sehen und ihm nur das leiseste Zugeständnis zu machen. War er doch inzwischen Anthroposoph geworden.“[*]
Hensel hatte als Grenzdeutscher mit ausgeprägt völkischen Tendenzen von Anfang an in der Besinnung auf das Volkslied das Volkstum stärken und ein Bekenntnis zum Deutschtum ablegen wollen, er traf sich in seiner völkischen Grundgesinnung zweifellos mit dem Nationalsozialismus und begrüßte den Anschluss des Sudetenlandes 1938. Den machtpolitischen Bestrebungen NS-Deutschlands und der Person Hitlers scheint er gleichwohl mit großer Skepsis gegenübergestanden zu haben. Manche seiner Lieder wurden von den Nationalsozialisten ohne sein Zutun vereinnahmt – dazu zählt das bereits 1919 entstandene, nicht auf Hitler gemünzte „Weihelied“ auf einen Text von Ernst Leibl („Wir heben unsere Hände aus tiefer, bittrer Not. Herr Gott, den Führer sende [...]“). Auch spätere Liedkompositionen sind differenziert zu betrachten und können – gerade in der Anfangszeit – teils als politische Zugeständnisse gewertet werden, teils aber auch als Versuch eines Mannes, der musikalisch minderwertige Lieder schlichtweg nicht ertrug, die kursierenden Melodien durch bessere zu ersetzen. Parteimitglied wurde Walther Hensel nach eigener Aussage nicht (siehe Brief aus Landshut an Herrn Heinemann vom 20.7.1950, AdJb A 228 Nr. 8291).

Hensel bezog in Teplitz, wo er mit dem Aufbau des Volksmusikwesens betraut war, ein eigenes Haus zusammen mit seiner zweiten Frau Paula, geb. Wimmer. Aus der Ehe ging 1940 die Tochter Hildegard hervor. 1945 verlor Hensel sein Hab und Gut, von einem Besuch bei den Schwiegereltern in Landshut Ostern 1945 konnte er nicht mehr nach Teplitz zurückkehren. Mit seiner Familie ließ er sich in Bayern nieder und lebte verarmt. Von 1946 bis 1950 war er Angestellter der Städtischen Bücherei München, er hielt noch einige Singwochen und arbeitete weiter an Volksliedbearbeitungen, publizierte jedoch nicht mehr. Wenige Monate vor seinem Tod erhielt er im Rahmen des Sudetendeutschen Tages in Nürnberg den Sudetendeutschen Kulturpreis. Er starb am 5. September 1956 und wurde am Tag seines 69. Geburtstags auf dem Münchener Waldfriedhof begraben.

Walther Hensel, Germanist und Volkskundler, Autor zahlreicher Liedsätze, Volksliedsammlungen („Das Aufrecht Fähnlein“, „Der singende Quell“, „Strampedemi“ u.a.) und substantieller Veröffentlichungen zum Volkslied („Auf den Spuren des Volksliedes“ u.a.), Chorleiter, Musiker und Lautenlehrer, vertrat eine Rückbesinnung auf das Volkslied, die sich mit einem hohen Wertmaßstab verband – das Volkslied, dem Hensel Herbheit und Strenge und künstlerische Qualität attestierte, wurde kategorisch vom „Schundlied“ unterschieden. Hensels Name bleibt mit der Veranstaltungsform der „Singwoche“ verknüpft, überdies ist die Entwicklung des Bärenreiter-Verlags eng mit Hensel verbunden. Verlagsgründer Karl Vötterle widmete seine früheste Verlagstätigkeit ganz der Finkensteiner Bewegung, die ihn als Teilnehmer der „Ursingwoche“ 1923 in seinen Bann gezogen hatte: „Ohne Walther Hensel wäre ich nicht Verleger geworden“, resümierte Vötterle später.[*]
Unter den Heimatvertriebenen fanden sich in der Nachkriegszeit auch die ehemaligen Finkensteiner wieder, und aus zweimonatlichen Singtreffen in München erwuchs 1961 die bis heute bestehende Walther Hensel-Gesellschaft, gegründet in der Absicht, Hensels Werke neu herauszugeben und mit Singwochen an seine Arbeit anzuknüpfen.
(ub)