Werner Gneist
1898-1980
[Nachlass siehe AdJb N 171]

Der Lehrer, Komponist und Singleiter Werner Gneist ist vor allem für seine Liedkompositionen bekannt, wie z.B. den Geburtstagskanon „Viel Glück und viel Segen“ oder die Lieder „Es tagt, der Sonne Morgenstrahl“, „Schenke, Herr, uns Ruhelosen“, „Die Harmonie der Sterne“. Mehrere seiner Lieder, Chöre und Liedsätze sind 1941-1966 beim Bärenreiter-Verlag Kassel erschienen, als eigene Sammlungen („Kleines Chorbuch“, „Kleines Liederbuch“, „Die Wundernacht“ etc., AdJb N 171 Nr. 27) sowie im Rahmen der Reihe Bärenreiter-Chorblätter (AdJb N 171 Nr. 24). Neben seinem musikalischen Schaffen und seinem Engagement für die Singbewegung (v.a. im schlesischen und schwäbischen Raum) war Werner Gneist vielseitig interessiert: So begeisterte er sich auch für Philosophie, Kunst, Astronomie, Naturwissenschaft und Technik. Er entwickelt eine eigene religiös geprägte Weltsicht und Lebensphilosophie; viele Schriften zeugen von seiner Auseinandersetzung mit dem menschlichen Wesen ebenso wie mit religiösen Deutungsebenen (vgl. u.a. AdJb N 171 Nr. 30, 32, 35-38). Darüber hinaus war er interessiert an bildender Kunst und zeichnerisch und gestalterisch selbst aktiv (vgl. u.a. AdJb N 171 Nr. 94-95). Seine schriftstellerischen Ambitionen belegen vor allem seine zahlreichen Gedichte (AdJb N 171 Nr. 108-115), seine Erzählungen und Theaterstücke/Märchenspiele (AdJb N 171 Nr. 48-50), aber auch ein unvollendeter Roman über seine Mutter und ihre Umzüge (AdJb N 171 Nr. 51). Sein umfangreicher Nachlass dokumentiert daher nicht nur seinen kriegsbedingt verwickelten Lebensweg, sondern auch seinen weiten Interessenshorizont. Besonders hervorzuheben ist die von ihm selbst als „Tagebuch“ bezeichnete Sammlung von persönlichen Dokumenten, in der er alle ihm wichtigen Korrespondenzen, Dokumente, Skizzen (Noten, Texte und Zeichnungen), Gedanken, Tagebuch-Notizen bis hin zu Kinderzeichnungen aus seiner Familie chronologisch sortiert hat (AdJb N 171 Nr. 55-92).

Während seiner Kindheit und Schulzeit in Breslau vermittelte ihm sein Vater Gustav Gneist erste musikalische, aber auch naturwissenschaftliche Kenntnisse. Er gab ihm Klavierunterricht, bis Werner Gneist 1908 zu einem professionellen Klavierlehrer wechselte. Sein Großvater war Klavierbauer in Liegnitz und versorgte die Familie in Breslau mit einem Klavier. Bereits mit zehn Jahren verfasste Werner Gneist erste Kompositionen. Mit dem Tod des Vaters 1912 musste er allerdings aufgrund finanzieller Nöte den Weg einer höheren Ausbildung mit Musikstudium aufgeben. Er verließ das Gymnasium und begann mit einer Volksschullehrerausbildung in Liegnitz, die er wegen kriegsbedingter Unterbrechung erst nach 1918 abschließen konnte. 1916 wurde er einberufen und nach militärischer Ausbildung in Schlesien in Serbien stationiert. Tatsächlich erhielt er im Ersten Weltkrieg sogar neue musikalische Anregungen, da er dort als Pauker, Hornist und Bassist mit der Musikkapelle auftrat. Sein Sohn Johannes Gneist, der eine Biografie seines Vaters verfasst hat, erläutert:
„Zu Stummfilmen, die den deutschen Besatzungssoldaten des Ersten Weltkriegs zum Zeitvertreib vorgeführt wurden, improvisierte er im verdunkelten Raum ‚Filmmusik‘ auf einem alten Harmonium. Bald erkannte man seine musikalischen Fähigkeiten, und er wurde für etliche Instrumentierungen und Arrangements herangezogen. Das nötige Rüstzeug hatte er sich autodidaktisch angeeignet.“[*]

1920 begann er als Volksschullehrer in Giersdorf bei Bunzlau und wechselte 1926 als Lehrer nach Bunzlau. Zu einem prägenden Kontakt wurde die Begegnung mit Walther Hensel, dem Initiator der Finkensteiner Singbewegung, den er bei einem Vortrag in Bunzlau kennenlernte. Im Rückblick beschrieb er den charismatischen Hensel als einen leidenschaftlichen Menschen und – nicht unkritisch – als „ein bisschen, wie soll man sagen, beinah fanatisch, verliebt in gute Musik, in gutes Volkslied. Nicht jedes Volkslied sagte ihm zu, und er kannte eigentlich nur zwei Kategorien: gut, was ungefähr gleichbedeutend war mit alt, und Kitsch“.[*] An der zweiten Finkensteiner Singwoche 1923 im deutschen Gnadenfrei nahm er daraufhin selbst teil und fand in Richard Poppe einen bis an dessen Lebensende inspirierenden und engen Freund. Vom Lebensgefühl der Singwochen ließ er sich so begeistern, dass er im Anschluss selbst regelmäßig an Singwochen mitwirkte (Quellen und Gedanken zur Singwochenarbeit u.a. AdJb N 171 Nr. 19). Er entwickelte eine eigene Ausrichtung der Singarbeit, und zwar mit christlicher Prägung:
„Ich versuchte, den Akzent des Singens vom Volkstumhaften auf eine Haltung des Mensch- und Christseins zu verschieben. Dazu sollten die Vorträge dienen, die oft als Zumutung empfunden und daher mitunter auch abgelehnt wurden. Gut musizieren ist nicht eine Frage gut beherrschter Techniken, sondern ein Ausdruck des Strebens nach vollendetem Menschsein. Da wir auf Erden keine vollendeten Menschen sein können, muß in allem, was wir tun, besonders aber im Singen der Balancezustand spürbar werden, in dem wir uns üben müssen.“[*]
Er übernahm die Singgemeinde in Bunzlau, wurde Leiter der gesamten niederschlesischen Jugendmusikbewegung und leitete an den Wochenenden oft Singtreffen in unterschiedlichen Orten. Für diese Singtreffen entstanden zahlreiche seiner Liedkompositionen als Gelegenheitsarbeiten. Sogar für sein Privatleben waren die Singwochen wegbereitend, denn 1930 lernte er auf einer Singwoche seine zukünftige Frau, die Schweizerin Gertrud Huber kennen. Aus dieser Ehe gingen vier Kinder hervor.
„Es erinnert sich Werner Gneist“
Chorlieder von Werner Gneist
Den Nationalsozialismus lehnte er von Beginn an ab, und die Entwicklungen in Deutschland um 1933 beobachtete er mit Besorgnis. Im Einsatz der Musik durch die Nationalsozialisten sah er einen Gegensatz zu seiner persönlichen Einstellung, wie er 1979 im Rückblick notierte:
„Der Nationalsozialismus erkannte den Zusammenhang zwischen dem Musizieren und der dazu erforderlichen geistig-seelischen ‚Haltung‘ durchaus, vertauschte aber genau Voraussetzung und Folge – Ursache und Wirkung. Musik sollte die gewünschte seelisch-geistige Haltung erzeugen, und zwar nicht auf der Grundlage der Berufung zu einer Idee, sondern mit möglichst totaler Wirkung auf der Grundlage der Überwältigung durch eine Ideologie.“[*]
Anfangs versuchte er noch, die Ideen der Singbewegung in das nationalsozialistische Deutschland einzubringen, scheiterte jedoch schnell. Dies kommentiert er ebenfalls in seinen Notizen 1979:
„Wir hatten die geistigen Bedürfnisse der Partei, besonders der Hitlerjugend bei weitem überschätzt. Die begeisternde Massenwirkung, auf die es der Partei ankam, brauchte nicht geistige Inhalte, sondern vor allem primitive Funktionsmechanismen, mit denen ein Betrieb aufrecht erhalten und so straff wie möglich zelebriert werden konnte. Da ich darin keinerlei Befriedigung zu finden imstande war, hielt ich mich aus allem, was der Nationalsozialismus an Ansprüchen laut werden ließ, heraus. Ich trat nicht in die Partei ein.“[*]
Auch seine religiöse Haltung war ein Grund, dass er 1938 den Eintritt in die Partei verweigerte, woraufhin er seine Stelle in Bunzlau verlor und nach Tillendorf strafversetzt wurde. Neben seiner Stelle als Volksschullehrer übernahm er dort auch das Kantorenamt. Auf der Suche nach Weiterentwicklung begann er 1941 für kurze Zeit als Musiklehrer in Trautenau, bis er auch dort wieder entlassen wurde.

Der Zweite Weltkrieg führte zur Trennung von seiner Familie: 1944 wurde Werner Gneist eingezogen, absolvierte eine kurze Ausbildung in Lüben und Liegnitz und wurde als Nachrichtensoldat an die Ostfront geschickt. Durch Verlust seiner Feldpostmarke verlor er den Kontakt zur Familie. Währenddessen floh seine Frau mit den vier Kindern unter großen Strapazen in die Schweiz. Am 6. Mai 1945 geriet Werner Gneist bei Königgrätz in russische Gefangenschaft. Während der Gefangenschaft waren, wie Johannes Gneist beschreibt, auch seine künstlerischen Talente gefragt: „Er wurde von der Schwerarbeit beim Geleisebau abkommandiert in eine Werkstatt, wo er unter anderem Lenin, Stalin und Molotow überlebensgroß in Öl malen mußte. Auch die Musik regte sich wieder in ihm, und es entstand hinter dem Stacheldraht eines seiner schönsten Morgenlieder.“[*] Nach seiner Entlassung Ende 1945 konnte Gneist nicht mehr in das zerstörte und polnisch besetzte Schlesien zurück. Über Bamberg kam er nach Azendorf bei Kulmbach, wo er wieder eine Lehrerstelle erhielt. Zwar konnte er hier wieder Kontakt mit seiner ebenfalls geflohenen Mutter aufnehmen, die wenig später zu ihm zog, doch die Verbindung zu seiner Familie in der Schweiz ließ noch länger auf sich warten. Nachdem erste Nachrichten zwischen den Familienmitgliedern Anfang 1946 ausgetauscht werden konnten, dauerte die Zusammenführung noch bis zu seiner neuen Anstellung im schwäbischen Kirchheim unter Teck im Jahr 1948 (vgl. AdJb N 171 Nr. 56-70).

In Kirchheim unter Teck wurde er 1948 Musiklehrer am Hauswirtschaftlichen Seminar, später auch Lehrer an der Mittelschule. Er arbeitete dort bis zu seiner Pensionierung 1963. Für seine Lehrtätigkeit komponierte er weiterhin, außerdem begann er wieder neu mit der Singwochenarbeit und war nun als Singwochenleiter in Deutschland, Österreich und der Schweiz tätig. Langjährige Zusammenarbeit verband ihn mit Karl Vötterle und dem Bärenreiter-Verlag sowie mit dem Arbeitskreis für Hausmusik in Kassel (vgl. Korrespondenz in AdJb N 171 Nr. 56-90). Gemeinsam mit seiner Frau nahm er aktiv am kulturellen Leben der Stadt Kirchheim teil und begann schon direkt in der Nachkriegszeit als Rezensent für die Lokalzeitung „Der Teckbote“ zu schreiben, zuerst nur über Musikveranstaltungen, später übernahm er auch andere Themen aus Kunst, Philosophie und Wissenschaft (AdJb N 171 Nr. 40-43). Im hohen Alter komponierte er noch für die Einweihung der Auferstehungskirche die Kantate „Der du, Jesu Christ, auferstanden bist“, die Ostern 1972 aufgeführt wurde (AdJb N 171 Nr. 21). In den Jahren 1973 und 1978 wurden vom Chor der Auferstehungskirche und Stadt Kirchheim große Geburtstagsfeiern für ihn veranstaltet (AdJb N 171 Nr. 46), 1973 auch verbunden mit der Verleihung der Konrad-Widerholt-Gedenkmünze (AdJb N 171 Nr. 97). Nach seinem Tod am 19.08.1980 würdigte man Werner Gneist mit Gedenkfeiern und Nachrufen, im Jahr 1998 veranstaltete die Stadt Kirchheim/Teck eine Feier zu seinem 100. Geburtstag (AdJb N 171 Nr. 45).
(af)



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