Wilhelm Twittenhoff
1904-1969
[Nachlass in AdJb A 228]


Wilhelm Twittenhoff wurde am 28. Februar 1904 in Werdohl (Westf.) geboren. Nach einer 1929 abgeschlossenen Privatmusiklehrer-Ausbildung am Musikseminar Heinz Schüngelers in Hagen, die auf eine kaufmännische Lehre folgte, studierte Wilhelm Twittenhoff Musikwissenschaft in Berlin und Halle. 1933 wurde er mit einer Arbeit über den Musiktheoretiker Joseph Riepel promoviert („Die musiktheoretischen Schriften Joseph Riepels (1709-1782) als Beispiel einer anschaulichen Musiklehre“, erschienen 1935, Reprint Olms/Hildesheim 1971). Schon ab 1926 zählte Twittenhoff zum Arbeitskreis um Fritz Jöde und gestaltete die entscheidenden Jahre der Jugendmusikbewegung aktiv mit.
Von 1934 bis 1936 arbeitete Twittenhoff als Musiklehrer an der Günther-Schule, einer Gymnastik- und Tanzschule in München, die Carl Orff zusammen mit der Gymnastiklehrerin Dorothee Günther 1924 gegründet hatte. Hier entwickelte Orff sein innovatives, sehr stark rhythmusorientiertes musikpädagogisches Konzept, in dem sich Bewegung und Musik verbanden. Die Zusammenarbeit mit Carl Orff beeinflusste Twittenhoff nachhaltig. Verschiedene weitere Stationen folgten in Twittenhoffs Lehrtätigkeit: 1936/37 war er als Dozent an der Hochschule für Lehrerbildung in Hirschberg im Riesengebirge tätig, ab 1937 an der Hochschule für Musik in Weimar, wo er nicht nur als Dozent für Blockflöte wirkte, sondern auch mit der Ausbildung von Volks- und Jugendmusikleitern betraut war und zudem ab 1942 formell ein „Seminar für Musikerzieher der HJ“ leitete. De facto allerdings übernahm Elfriede Thomas in diesen Jahren die Aufgaben Twittenhoffs, während er von 1940 bis 1945 Kriegsdienst versah.
Nach dem Krieg stand Twittenhoffs schneller Rückkehr in die Lehrtätigkeit nicht nur dessen Mitgliedschaft in der NSDAP ab 1937 entgegen. Fred K. Prieberg führt in seinem „Handbuch Deutsche Musiker 1933-1945“ an: „SA seit 1934. 1940 HJ-Obergefolgschaftsführer, Mitarbeiter der HA Musik im Kulturamt der RJF und 1937 Leiter des Musikseminars der HJ an der Musikhochschule Weimar. Mitwirkung im HJ-Rundfunk, so 1939 beim RS Leipzig“.[*] Überdies dokumentiert Prieberg eine Fülle von NS-treuen Liedtexten, die Twittenhoff in diesen Jahren vertonte, beispielsweise „Wir sind in die herrlichste Zeit gestellt“ aus dem Jahr 1943:
„Mit brennendem Herzen sind wir gewillt/ zu unserem Führer zu stehen./ Einst wird uns die köstliche Stunde erfüllt,/ als Sturmtrupp der Jugend mit Panzer und Schild/ für den Führer durchs Feuer zu gehen.“[*]
Den Tenor von einer „herrlichen Zeit“ vermitteln auch die folgenden Sätze Twittenhoffs aus dem Jahr 1936 über die musikalische Entwicklung in der NS-Zeit:
„Eine geistige Revolution von ähnlich tiefgreifender Wirkung, wie sie der nationalsozialistische Umbruch auslöste, findet man nur in der Reformation wieder. Damals wie heute war die Wirkung auf musikalischem Gebiet in erster Linie ein Aufquellen ursprünglichster Freude am Singen. Wurde damals der Einzelne als Glied einer Gemeinde erfaßt, einer Gemeinde, die mehr als je zuvor ihr gemeinsames Lied fand, so wird er heute als Glied eines Volkes auch durch das gemeinsam gesungene Lied erzogen [… ] Es ist nur eine Frage der Zeit, daß aus den Gliederungen der Jugend selbst Begabte und fachlich Geschulte hervorgehen, in deren Händen die musikalische Betreuung der Jugend liegt. Der Typ dieses Jugendmusikführers wird zwar in wesentlichen Punkten vom Privatmusiklehrer der Vergangenheit abstechen. Mit seiner Wirksamkeit wird dem deutschen Musikleben jene gesunde Grundlage gegeben, die zu verwirklichen der musikalischen Jugendbewegung nur in Ansätzen gelingen konnte.“[*]

Auch die harmlos anmutende Kantate „Lob der Kartoffel“ auf Texte von Matthias Claudius („Pasteten hin, Pasteten her“) wertet Prieberg als regimestützende Werbung für die heimische, stets verfügbare Kartoffel in Zeiten der Lebensmittelknappheit.[*] Die Rundfunk-Präsenz dieser „Reichsnährstandskantate“ in der NS-Zeit legt diese Deutung nahe, auch wenn Twittenhoff in biografischen Erläuterungen, die er 1968 der Partitur beilegte, eine arglose Entstehungsgeschichte erzählt, in der er 1935 oder 1936 im Gespräch mit Freunden über „die ewigen ‚Führer‘-Lieder und die Lieder von Trommel und Fahne“ halb scherzhaft, halb ernst gesagt haben will: „Warum besingt man nicht die Kartoffel!“ (siehe AdJb A 228 Nr. 137).
Erst 1948 konnte Twittenhoff, der nach dem Krieg zunächst als privater Musiklehrer in Weimar arbeitete, wieder eine öffentliche Lehrtätigkeit aufnehmen: Von 1948 bis 1949 war er Lehrer an der Musikschule in Soest. Ab 1950 baute er die Jugendmusikschule in Dortmund mit auf. Ein Text zur Eröffnung der Städtischen Musikschule trägt den Titel: „Ebnet unserer Jugend den Weg zur Musik!“ (AdJb A 228 Nr. 1001). Der Jugend den Weg zur Musik zu ebnen, blieb auch weiterhin das Zentrum von Twittenhoffs beruflichem Engagement. Maßgeblich war er am Aufbau des Musikschulwesens in der Nachkriegszeit beteiligt, seine Schrift „Neue Musikschulen. Eine Forderung unserer Zeit“ (1951) wurde wegweisend. 1953 wurde Twittenhoff Leiter der seit 1951 bestehenden Jugendmusikschule Hamburg (sein Vortrag zur Einführung ist in AdJb A 228 Nr. 1000 überliefert). Dass das deutsche Musikschulwesen auch für andere Länder Vorbildfunktion besaß und Twittenhoff hier zu den zentralen Persönlichkeiten zählte, zeigt exemplarisch ein 1960 an Jöde gerichtetes Schreiben von Johanna Blum (Bozen). Blum, die in Italien als „Mutter der Musikschulen“ gilt, schreibt über den Aufbau der italienischen Musikschulen: „Als Vorbild dienen uns die deutschen Jugendmusikschulen u. wir sind mit Twittenhoff, Waldmann u. Bresgen in Fühlung, auch zwecks Ausbildung eigener Kräfte in Trossingen und Salzburg. Wir haben uns da an ein großes Projekt herangewagt.“[*] Auslandsreisen führten Twittenhoff in die Sowjetunion, nach Rumänien und in die DDR, um dort musikpädagogische Institutionen zu inspizieren (siehe insbesondere AdJb A 228 Nr. 1008 und Nr. 1011f.).

Von 1958 bis 1967 war Twittenhoff Direktor der neu gegründeten Musischen Bildungsstätte in Remscheid (heute als „Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW“ noch immer der Jugendbildung verpflichtet). Parallel zu seinen verschiedenen Führungsposten übernahm er leitende Aufgaben in etlichen Verbänden: So wurde er 1951 Landesleiter der Musikantengilde Nordrhein-Westfalen und war ab 1952 Vorsitzender des Verbandes der Jugend- und Volksmusikschulen – eine Funktion, die er bis in sein Todesjahr 1969 hinein innehatte. Von 1954 bis 1959 war er, zusammen mit Gottfried Wolters und Herbert Saß, Vorsitzender des AJM (früher „Musikantengilde“).
Als Schriftleiter der bei Schott erschienenen Zeitschrift „Junge Musik“ war Twittenhoff 1954 in Auseinandersetzungen mit Theodor W. Adorno um dessen „Thesen gegen die musikpädagogische Musik“ verwickelt, die unter den älteren Vertretern der Jugendmusikbewegung auf heftigen Widerstand stießen (Dokumente hierzu besonders in AdJb A 228 Nr. 1004).
Twittenhoff ist Autor zahlreicher musikpädagogischer Schriften. Außerdem übte er eine umfangreiche Vortragstätigkeit aus (Zeugnis davon legen die zahlreichen Artikelsammlungen im überlieferten Nachlass ab). Zu den in seinen Publikationen wiederkehrenden musikpädagogischen Fragen zählt die Auseinandersetzung mit dem Schlager – hier wird eine für die Vertreter der Jugendmusikbewegung typische Gesinnung deutlich, die an einem konservativen Kunstanspruch festhält:
„Etwas wird man bei dem Problem Schlager und Jugend nicht übersehen dürfen: Es besteht ein unseliger Teufelskreis zwischen dem ständigen Hören von Schlagern und der Entwicklung des Kritikvermögens. Die Dauerberieselung mit seichter Musik schläfert nicht nur ein, sie wird zu einer regelrechten Sucht. Die Zahlen der Kinder und Schülern [sic], die nur vor einer nichtssagenden aber darum keineswegs unwirksamen Geräuschkulisse ihre Schularbeiten machen, geben den Jugendpsychologen und Pädagogen zu denken. […] Auch die leichte, ja sogar die seichte Musik mag ihre Funktion in unserer Gesellschaft haben. Aber niemand, der einmal von der Würde und der Macht wahrer Kunst etwas zu spüren bekam, wird diese eine Funktion der Musik als einzige anerkennen.“[*]

Bemerkenswert ist Twittenhoffs intensive Auseinandersetzung mit dem Jazz, den er – anders als viele Kollegen – nicht grundsätzlich ablehnte, wie beispielsweise aus dem Text „Für und wider den Jazz in Darmstadt“ hervorgeht:
„Für mich steht es außer Zweifel, daß der Jazz auf weite Strecken hin – vor allem in seiner Vor- und Frühgeschichte – eine ‚echte menschliche Aussage‘ darstellt, echter als es die meisten anderen Musikgattungen des letzten Jahrhunderts waren.“[*]
Er widmete dem Jazz sogar eine eigene Buchpublikation, den Band „Jugend und Jazz“ (Schott 1953), von der Kritik als „ungemein faire Diskussion“ des Themas gewertet (siehe AdJb A 228 Nr. 1019). Gleichwohl wird auch hier Twittenhoffs Sorge deutlich, die Jugend könne dem Jazz suchtartig verfallen. Die Suche nach einem Ausweg sieht er in der Fokussierung der Musikpädagogik auf den Rhythmus, die ihn wieder zu Carl Orff zurückführt:
„Wir haben mehrfach zum Ausdruck gebracht, daß wir von Verboten nicht viel halten. Negative Vorzeichen schaffen eine Sache nicht aus der Welt, sondern heben häufig nur ihre Anziehungskraft. Dem Erzieher bleiben auch genug positive Möglichkeiten. Er muß darum bemüht sein, den jungen Menschen gegen die Möglichkeit des ‚Verfallens‘ zu immunisieren; und da gibt es nur einen Weg: die rhythmisch-vitale Seite der Musik [die lt. W. T. der Jazz im starkem Maße vertritt] überhaupt stärker in die Erziehung einzubeziehen. Wir kennen eine Reihe erfolgreicher Ansätze, die von diesem Ziel bestimmt werden. Unser gesamtes Jugend- und Laienmusizieren entsprang im Grunde dem Protest gegen eine abstrakte oder blutlose und langweilige Musikunterweisung. Es entstanden neue Lieder von starker rhythmischer Lebendigkeit; es entstanden auch neue Formen chorischen Singens und Musizierens, in denen die Improvisation wieder Raum gewann. Die bis in die Anfangsjahre unseres Jahrhunderts zurückreichenden Bemühungen, die Musikerziehung mit der Körperbewegung zu verknüpfen, liegen auf der gleichen Linie. Einer der radikalsten und erfolgreichsten Impulse ging von dem Komponisten Carl Orff aus. In seinem ‚Schulwerk‘ findet der Musikerzieher nicht nur ein klug durchdachtes und künstlerisch gestaltetes Lehrbuch der Improvisation, sondern eine Fülle von Anregungen, das Musizieren vom ersten Tage an lebendig zu machen. Orffs Anregungen ist die Entwicklung eines völlig neuen Instrumentariums zu verdanken, dessen Einbeziehung in den Musikunterricht von entscheidender Bedeutung sein kann. Orffs Schüler und Mitarbeiter Keetman und Bergese steuerten wertvolle Beiträge und Ergänzungen hinzu. Daneben entwickelte sich in Deutschland vor allem unter dem Einfluß von Elfriede Feudel eine Lehre der ‚Rhythmischen Erziehung‘, die ganz vom Kinde und seinen ursprünglichen Beziehungen zur Musik und Bewegung ausgeht. Würden all diese Kräfte und Anregungen in die gegenwärtige Musikerziehung eingebaut, so wäre das Problem ihrer stärkeren ‚Durchblutung‘ gelöst, und wir würden auch die Einflüsse des Jazz aufgreifen und verwenden. Auf einer höheren Stufe der Musikerziehung bietet die Beschäftigung mit der modernen Kunstmusik ein wirksames Mittel gegen die Alleinherrschaft des Jazz. Wer seinen Schülern den Weg zur Tonsprache eines Strawinsky, Hindemith, Bartók so zu ebnen vermag, daß sie auch hier den ‚Ausdruck unserer Zeit‘ und ihren Rhythmus spüren, kann mit einiger Zuversicht annehmen, daß keiner seiner Schüler dem Jazz ‚verfällt‘. Sie werden zum mindesten Vergleichsmaßstäbe und Kriterien erworben haben, an denen die Bedingtheiten wie die Einmaligkeit des Jazz zu messen sind.“[*]
Der aus diesen Zeilen sprechende musikpädagogische Impetus, der sich einerseits Neuem öffnet, andererseits aber konservativen Werten verhaftet bleibt, ist kennzeichnend für Wilhelm Twittenhoff und seine Generation. War Twittenhoff beim Jazz zu Konzessionen bereit, zeigte er sich – wie viele Kollegen – kompromisslos gegenüber Jödes Hinwendung zur Firma Hohner und den Volksinstrumenten, die Mitte der 1950er Jahre zu tiefgreifenden Auseinandersetzungen führte.
Wilhelm Twittenhoff starb am 23. September 1969 in Aegidienberg/Köln.
(ub)