Der Musikpädagoge Georg Götsch hat sehr umfangreiche Lebenserinnerungen verfasst, durchsetzt mit seinem durchaus eigenen Denken zu Themen wie Naturerleben, Pädagogik und Gemeinschaft. So hat er u.a. von 1914 bis 1943 Tagebuch geführt, aber auch darüber hinaus aus seiner Kindheit, seinem Leben und seinen Tätigkeiten berichtet. Als Teil seiner Erinnerungen kann auch die Malerei gesehen werden, da er bildnerisch vor allem Landschaftseindrücke und Porträts seiner Umgebung festhielt, so beispielsweise auch aus seiner Zeit in Russland. Darüber hinaus hat er aus seiner Arbeit heraus einiges publiziert, sowohl Noten herausgegeben als auch Schriften veröffentlicht.
Georg Götsch wuchs in einfachen Verhältnissen bei seiner Mutter in Berlin auf; sein Vater, ein Eisengießermeister, war bereits vor seiner Geburt gestorben. Nach dem Besuch der Volksschule begann er an der Präparandenanstalt mit der Volksschullehrerausbildung. Während dieser Zeit entdeckte er das Wandervogelleben für sich und engagierte sich mit Enthusiasmus als Fahrtenführer im Altwandervogel. „Meine besondere Form dieses Lebens in Gruppen, dieser allgemeinen Jugendbewegung war der Wandervogel. Ich kann mit Stolz sagen, daß er ebenso durch mich wie ich durch ihn geworden bin“,[*] resümiert er später.
Nachdem er sich 1914 freiwillig für den Kriegsdienst gemeldet hatte, geriet er nach einer Verwundung im Jahr 1915 in Kriegsgefangenschaft und verbrachte fünf Jahre als Kriegsgefangener in Sibirien. Die zahlreichen Tagebuch- und Erinnerungsschriften, die Götsch in großem Umfang geführt hat, vermitteln auch aus seiner Zeit in Russland einige Eindrücke (Leben in verschiedenen Lagern, Landarbeit im Sommer, Arbeit als Bäcker u.a.). Auch wenn er die lebensbedrohlichen Krankheiten und die klirrende Kälte beklagte, die allen körperlich unvorstellbar zusetzte, schilderte er teilweise doch das Land, die Landschaft und seine Lage erstaunlich positiv. Nach eigenen Worten versuchte er, sich aus „tieftraurigen Gedanken“ zu „seelischer Schwungkraft“ zu bringen.[*] Neben Naturerlebnissen ist es vor allem eine Kultur- und Musikarbeit, die Götsch mit seinen Lagergenossen unternahm, aus der er Lebensmut gewinnt. In Sibirien beginnt er auch zu malen, dank einer Materialsendung durch die Feldpost. Mit Interesse nimmt er das dörfliche Leben und die Volksmusik auf. Wenige Jahre später reist er sogar noch einmal für zwei Monate durch das Land, um das Musikleben kennenzulernen.
1920 konnte Götsch nach Berlin zurückkehren; er nahm wieder Kontakt und Aktivitäten mit alten Wandervogel-Kameraden auf. 1921 entstand aus Altwandervogel-Kreisen die „Märkische Spielgemeinde“, die im Wesentlichen von ihm geleitet wurde und neben Musik auch Laienspiel und Tanz betrieb. Parallel begann Götsch als Volksschullehrer zu arbeiten und erprobte als Pädagoge einer Mädchenklasse einer Ostberliner Schule neue Wege der musischen Erziehung. Die ehemalige Schülerin Erna von Gruiter erinnert sich, wie der junge Lehrer versucht habe, einige der schulischen Gegebenheiten zu verändern, aber bei seinem Kollegium auf Widerstand gestoßen sei: „Götsch sagte auch, wir sollten unsere grauen Flure mit selbstgemalten Bildern behängen. Sofort begannen wir damit, aber die Lehrerinnen rissen sie wieder ab und bestraften uns.“[*] Sie berichtet außerdem, wie Götsch Begeisterung für Märchen und Gedichte, für Volkslieder und mehrstimmiges Singen, Tanz und Bewegung, Kunst und Malerei geweckt habe („Wir lernten sehr bald Kunst von Kitsch, Echtes von Unechtem zu unterscheiden“). Teil seiner Vermittlung war ebenso der Umgang mit Sprache wie religiöse Erziehung, aber vor allem ein Naturerleben, das Götsch aus dem Wandervogel in die Pädagogik überführte.
1924 ließ sich Götsch von der Volksschule beurlauben, um ein Musikstudium aufzunehmen. Mit Fritz Jöde, den er über den Wandervogel kennengelernt hatte, war er bereits seit 1920 erneut in Kontakt; 1921 war Götsch bei der sogenannten „Tagung der Führergilde“ in Heidelberg dabei und gehörte zum engsten Kreis der Musikantengilde. Sein Studium begann er nun auch bei Jöde an der Charlottenburger Akademie für Kirchen- und Schulmusik, wodurch er in die Arbeit der Musikantengilde stärker eingebunden wurde.
Götsch arbeitete weiter mit der Märkischen Spielgemeinde und unternahm mit ihr ausgedehnte Chorreisen u.a. nach England, Norwegen und Holland. Insbesondere eine deutsch-englische Partnerschaft versuchte er voranzubringen, motiviert durch seine Freundschaft mit Rolf Gardiner, der sich in England für die Wiederbelebung englischer Volkstänze (Kontratanz, Morristänze) einsetzte und später die Springhead Society gründete. In den 1920er Jahren hatte Gardiner Kontakt zur deutschen Jugendbewegung; 1926 begegnete er Götsch bei der Märkischen Spielgemeinde und stellte ihm englische Tänze vor. Für die folgenden Jahre erarbeiteten sie ein Programm zur Zusammenarbeit. Götschs Freundschaft mit Gardiner blieb lebenslang bestehen, auch in den 1930er Jahren waren sie aktiv in der Organisation deutsch-englischer Austauschveranstaltungen. Der „Deutsche Singkreis“ (so der neue Name der Märkischen Spielgemeinde) reiste in den Jahren 1928, 1931 und 1936 nach England.
Schon länger beschäftigte sich Götsch mit der Vorstellung einer Heimvolkshochschule, einer „Musiksiedlung“ oder eines „Volkshauses“, bis er schließlich im Kultusminister Carl Heinrich Becker einen Unterstützer fand, der die Umsetzung ermöglichte. 1928 fand in Frankfurt/Oder die Grundsteinlegung für das neue Musikheim statt, das vom Architekten Otto Bartning entworfen wurde, 1929 wurde es eröffnet. Das Musikheim Frankfurt/Oder bot auf Veranlassung Beckers achtwöchige staatliche Lehrgänge zur Lehrerbildung an, um so zur Ausbildung der Volksschullehrer beizutragen. Im Semester 1932/33 wurde außerdem das sogenannte Convivium Viadrinum mit zahlreichen Gastdozenten organisiert, als ein Versuch der Verbindung von intellektuellen mit musischen Bildungsformen; die Studierenden kamen großenteils auch aus der Deutschen Freischar.
Vor allem wurde das Musikheim auch zum Ort, an dem Götsch seine Vorstellungen einer musischen Bildung im Sinne einer „Erneuerung des Menschen“ umsetzen konnte. Die Kurse waren nicht auf Musik beschränkt, sondern beinhalteten Tanz, Gymnastik, Laienspiel bis hin zu Werken und Gartenarbeit. Bei der Grundsteinlegung bezeichnete Götsch das Musikheim als „Lebensstätte der Musik“ und formulierte als Ziel: „Ruhiges Zusammenleben, klare Lebensordnung und eine wirkliche Heimatmosphäre werden die besten Grundlagen für gemeinsames geistiges Schaffen bilden.“[*] Über die Bildungsstätte hinaus sah Götsch darin auch eine „Sammelstätte der Musikbewegung“[*]. Zu den engen Kreisen seiner Mitarbeiter gehörten u.a. Karl Gofferje und Eduard Meier-Menzel (bis 1933) sowie Klaus Borries, Kurt Sydow, Hans Grosser und Erich Bitterhof.
Während der NS-Zeit konnte das Musikheim seine Arbeit zunächst fortsetzen, allerdings mussten einzelne Mitarbeiter den Dienst quittieren. Es erhielt Unterstützung durch Otto Daumann, der die Regionalverwaltung leitete. In der Kriegszeit war das Personal zunehmend weiblich besetzt, bis das Musikheim 1941 schließen musste und 1942 zum Lazarett umfunktioniert wurde. Götsch wurde im Nachhinein von mehreren Seiten eine „Aversion gegen den Nationalsozialismus“ zugesprochen.[*] Allerdings wurde Götsch 1938 NSDAP-Mitglied, und bereits frühe Äußerungen zeigen durchaus eine Hinwendung zur NS-Ideologie. In seiner Publikation „Männerchor oder Singende Mannschaft“ aus dem Jahr 1934 formuliert er beispielsweise:
„Heute setzt der führende deutsche Staatsmann die Kunst wieder als politische Lebensmacht des Volkes ein. Er stellt die Musik gleich neben den Staat, wie einst Luther die Musik gleich neben die Theologie gestellt hat. Er erhöht damit ihren Rang; aber er vertieft gleichzeitig ihre Aufgabe: Er fordert letztlich eine Politisierung der Musik.“[*]
1938 gab Götsch eine Broschüre zu seinem Musikheim heraus, die erneut als Spiegel seiner politischen Überzeugung gelesen werden kann. So spricht er von einer „deutschen Erweckung [...] auf musischem Gebiete“, für die das Musikheim „Vorarbeit“ geleistet habe.[*]
In die 1930er Jahre fällt auch seine Ehe mit Katherine (Kitty) Trevelyan, der Tochter des englischen Adeligen Sir Charles Trevelyan, durch die Götschs Kontakte zu England weiter verstärkt wurden. Bei einer Deutschlandreise der „English Dancers and Players“ im Jahr 1931 war Katherine Trevelyan zu Gast im Musikheim und lernte Götsch dort kennen, wenig später heirateten sie. Allerdings sorgten seine angeschlagene Gesundheit und seine durchaus nicht einfache Persönlichkeit in Verbindung mit einer isolierten Position Katherines im Musikheim-Umfeld bald für Schwierigkeiten. Erinnerungen von Klaus Borries legen nahe, dass Götschs sehr männerbündisch orientierten Kreise in Frankfurt wohl einer Abneigung gegen seine Ehe bzw. seine Ehefrau Ausdruck verliehen.[*] Hinzu kam die Verschärfung der politischen Situation. 1936 zog Katherine mit den gemeinsamen Töchtern zurück nach England, zwei Jahre später folgte die Scheidung. 1950 heiratete Götsch die wesentlich jüngere Heidi Ringhardtz (spätere Holtzmann).
In der Nachkriegszeit hatte Götsch zunehmend mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, u.a. hatte er einen langen Klinikaufenthalt nach einer Nierenoperation. Mittlerweile lebte er am Bodensee. 1946 trafen sich seine alten Kreise von Kollegen und Freunden wieder, ein Jahr später wurde die Gesellschaft der Freunde des Musikheims neu gegründet und schließlich 1950 in „Musische Gesellschaft“ umbenannt. Erich Bitterhof, der bereits als Geschäftsführer der Märkischen Spielgemeinde aktiv gewesen war, setzte sich nun für die Gesellschaft und vor allem für die Fortsetzung der Publikation regelmäßiger „Mitteilungen“ ein. Nach dem Verlust des Musikheims Frankfurt/Oder diskutierte man über eine mögliche Neugründung einer „Musischen Akademie“. 1952 fand man schließlich auf Burg Fürsteneck einen Ort für eine „Heimvolkshochschule“, bei deren Ausbau auch der Architekt Otto Bartning noch einmal beratend zur Seite stand.
Götsch begann 1948 wieder, Vorträge, Lehrgänge und Kurse zu geben. Unter dem in Frankfurt bereits verwendeten Titel „Convivium Viadrinum“ veranstaltete er 1950 eine internationale musische Freizeit in Überlingen. Neben einzelnen musischen Wochen an unterschiedlichen Orten begründete er 1952 „Musische Semester“ für Volksschullehrer in Jugenheim. Trotz schwerer gesundheitlicher Probleme leitete er 1954 auch noch eine Musische Sommerwoche in der neuen Heimvolkshochschule Fürsteneck. Seine letzten Wochen verbrachte Götsch schwerkrank bei seinem Bruder Rudolf in Friedrichshafen; er starb im September 1956. Bitterhof wurde der Nachlassverwalter Georg Götschs und veröffentlichte 1969 den Sammelband „Georg Götsch - Lebenszeichen“.
(af)