Die Jugendmusikbewegung nach 1945
Neuanfang im Zeichen des Singens
„Wie mein aus dem Gleis gekommener Karren nun wieder flott werden soll, weiss ich noch nicht“, schrieb Ekkehart Pfannenstiel 1948 an Fritz Jöde.[*] Er formulierte damit eine Ratlosigkeit, die etliche Mitstreiter der Jugendmusikbewegung nach dem Krieg beherrschte, und zwar keineswegs nur die, die sich – wie Pfannenstiel – mit Entschlossenheit in den Dienst des NS-Staates gestellt hatten. Gedanken an berufliche Umorientierung, etwa Arbeit in der Landwirtschaft, lagen in der Luft, zumal die laufenden Entnazifizierungsverfahren für viele eine institutionsgebundene pädagogische Tätigkeit vorläufig unmöglich machten.
Es war ausgerechnet der Älteste, der schon unmittelbar nach Kriegsende unerschütterlich Aufbruchsstimmung verbreitete: der fast sechzigjährige Fritz Jöde. Kennzeichnend für Jödes Gemütsverfassung in der Nachkriegszeit ist eine Karte, die er schon Ende 1945 an Wilhelm Twittenhoff schrieb:
„Lieber Twitt! Herzlich Dank für Deine Grüsse. Fein, dass Du wieder da bist. Das weitere wird sich dann schon finden. Nur anfangen, nur arbeiten und nicht so viel Grappen in den Kopf setzen. Wir haben hier in Reichenhall alles überstanden, meine Frau, unser nun fünfjähriger Junge und ich, und warten der Dinge, die kommen wollen. Allerhand Pläne tauchen auf, sowohl – als auch. Aber einstweilen bin ich hier Kantor an der evangelischen Gemeinde in Reichenhall und habe mir da eine richtige Musikantengilde aufgebaut. So können wir trotz allem wohl durchhalten, bis wir unsere sieben Sachen packen und abdampfen. Dir aber wünsche ich, dass Du doch nicht ganz zur Landwirtschaft übersiedelst, sondern bei der Musik bleibst. Es werden schon wieder die Zeiten kommen, wo das möglich ist. Jedenfalls bist doch auch Du davon überzeugt, dass unsere Jugendmusikarbeit bis 33 nun wieder neu und mit einem viel tieferen Klang als damals anzusetzen haben wird. Machen wir uns dafür bereit!“[*]
In aufmunternden persönlichen Briefen an die alten Weggefährten und in einem „Aufruf an Freunde“ aus dem Sommer 1946 knüpfte Jöde an alte Verbindungen an, während er zielstrebig seine beruflichen Möglichkeiten sondierte und die Rückkehr in die Heimatstadt Hamburg vorbereitete. Zwar bekundete er in seinem „Aufruf an Freunde“ zunächst, keine neue „Musik-Organisation“ gründen, sondern nur ein Netz der Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe in der Musikarbeit aufbauen zu wollen, doch ließ der organisatorische Rahmen nicht lange auf sich warten: Schon im November 1947 wurde eine neue Musikantengilde gegründet, mit dem vollständigen Namen „Musikantengilde (Bund für Sing- und Spielkreise)“. „Daß wir wieder ein singendes Volk werden“, war – in dieser oder ähnlicher Formulierung – Jödes vielfach erklärte Absicht, wobei er wie in früheren Zeiten die soziale Aufgabe der Musikarbeit betonte. So heißt es auch in der Satzung des neu gegründeten Bundes:
„Die ‚Musikantengilde‘ hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Lied- und Musikpflege einschließlich aller damit zusammenhängenden Gebiete des musischen Lebens innerhalb der Jugend zu fördern, um auf diese Weise an einem sozialen Neuaufbau mitzuwirken.“[*]
Immer wieder betonte Jöde dabei den Aspekt der Freude, die durch Musik ins Leben gebracht wird – so auch in einer Radiosendung des NWDR aus dem harten Nachkriegswinter 1947/48: „Denn unter all den wenigen Freudebringern, die es heute noch für uns Deutsche gibt, steht, meine ich, die Musik an erster Stelle.“[*]
Bundesvorsitzender der neuen „Musikantengilde“ war Jöde selbst. Auf allen Ebenen rekrutierten sich die Mitarbeiter weitgehend aus Leuten, die bereits die erste Phase der Jugendmusikbewegung mitgestaltet und -erlebt hatten und Jöde mehr oder weniger vertraut waren – ob in der Bundesleitung, in den Landschaftsleitungen, die die Musikantengilde regional vertraten, oder in der aktiven musikalischen Arbeit auf Ortsebene.
Auch in den Arbeitsformen knüpfte man an die frühere Zeit an: Im Zentrum standen Sing- und Musizierwochen bzw. -wochenenden, Offene Singstunden, Lehrgänge für Jugendgruppen- und Singleiter sowie Vorträge; auch Veröffentlichungen wurden wieder herausgebracht, wie etwa die Zeitschrift „Junge Musik“.
Der Schwerpunkt der praktischen Arbeit lag zunächst eindeutig auf dem Singen – von Gottfried Wolters überliefert ein Sitzungsprotokoll aus dem November 1947 die Aussage: „Das ist so selbstverständlich, dass wir es nicht aussprechen müssen. Singen ist immer das Natürlichste und Selbstverständlichste.“[*]
Jöde selbst leitete erste Großveranstaltungen in Hamburg und ließ das Offene Singen wieder aufleben, er war maßgeblich an den „Jugendsingen“ im Stadtpark beteiligt, zu denen Tausende Teilnehmer kamen; auch das von Jöde initiierte Norddeutsche Singtreffen auf dem neueröffneten Jugendhof Barsbüttel 1948 gehörte zu den frühen Singveranstaltungen größeren Maßstabs in der Nachkriegszeit. Zu einer Institution wurden für kleinere Teilnehmerkreise Jödes Bach-Wochen auf dem Herzberg (Schweiz) von 1949 bis 1964, denen sich bald auch Mozart-Wochen zugesellten (diese Veranstaltungen sind umfangreich, auch mit mehreren Tonaufnahmen, im Archiv dokumentiert).
Mit Gottfried Wolters und Willi Träder fand das „Offene Singen“ in der Nachkriegszeit zwei herausragende Repräsentanten, die Reihen Offener Singstunden in Hamburg (Wolters) und Hannover und Berlin (Träder) begründeten sowie Rundfunksingstunden gestalteten. Beide leiteten auch ambitionierte Chöre, deren Qualitäts- und Leistungsanspruch den gewohnten Rahmen des Laienmusizierens sprengte: Wolters den Norddeutschen Singkreis, Träder den Niedersächsischen und den Rupenhorner Singkreis. Das hohe Niveau der Chöre ließ es in besonderem Maße zu, die erklärte Absicht der Musikantengilde umzusetzen, sich verstärkt zeitgenössischen Komponisten zuzuwenden. Namen wie Hugo Distler, Felicitas Kukuck, Günter Bialas, Ernst Pepping u.a. waren in den Konzertprogrammen allgegenwärtig. In Süddeutschland war es besonders der Stuttgarter Kirchenmusiker Hans Grischkat, der sich für seine anspruchsvolle Chorarbeit mit Laien einen Namen machte, wobei die Musik Bachs im Zentrum stand.
In Vielfalt und Intensität der Chor- und Gesangsarbeit der Nachkriegszeit liegt es begründet, dass Ekkehart Pfannenstiel in seinen kurzen Erinnerungen „Der deutsche Jugendgesang“ die Phase der Jugendmusikbewegung nach 1945 als „Die Zeit der Chorbewegung“ charakterisierte.[*]
Diskussionen um das Niveau der musikalischen Arbeit tauchten immer wieder auf. Besonders pointiert formulierte Theodor W. Adorno den Vorwurf des Dilettantismus, doch auch unter den Beteiligten selbst war dieser Aspekt immer wieder Thema. Bemerkenswert sind die Sätze, die Gottfried Wolters 1987 in einem Interview anlässlich des 100. Geburtstags von Fritz Jöde zur Singarbeit nach 1945 äußert:
„Jöde, das war der Mann, der viele (möglichst alle?) Menschen zur Musik führen wollte – über das Singen! Das bewunderte ich – denn etwas Ähnliches wollte ich (Anfänger) auch, freilich nicht so sehr in aller Breite und mehr auf der Suche nach handwerklich fundierter Leistung […] Da war viel Gemeinsames und wieder manche Abgrenzung. Wieviel Sorge bereitete ihm [Jöde] mein Abtreiben ins fast ‚Professionelle‘ – aber ich wollte aus dem üblichen Dilettantismus des Laienmusizierens heraus, wo er mich vielleicht ins ‚Elitäre‘ abschwimmen sah.“[*]
Jöde selbst hatte nach dem Krieg zunächst die Vorstellung formuliert, dem früheren Vorwurf der Laienhaftigkeit durch Qualität entgegenarbeiten zu wollen: Schon im „Aufruf an Freunde“ von 1946 entwarf er die Absicht, „alles Halbe und Unreife in uns zu überwinden und im Handwerklichen der Sing- und Musikübung eine solche Sicherheit und Sauberkeit [zu] erreichen, daß der alte Vorwurf des Dilettantismus sich nicht aufs neue erhebe“.[*] In der Praxis scheute Jöde dann aber doch die Konsequenzen dieses selbsterhobenen Anspruchs.
Kontroverse um Volksmusikinstrumente
Es liegt auf der Hand, dass zwischen musikalischer Breitenarbeit einerseits und musikalischer Qualität andererseits eine Gratwanderung zu vollziehen ist. Nicht zuletzt in den divergierenden Bewertungen dieser Frage liegt es begründet, dass Jödes nächster Schritt auf erbitterten Widerstand bei vielen Weggefährten stoßen musste: Unter weitgehender Preisgabe musikalischer Qualitätskriterien wandte sich Fritz Jöde Anfang der 1950er Jahre den Volksmusikinstrumenten – insbesondere Akkordeon und Mundharmonika – zu und wurde, in institutioneller Anbindung an den Musikinstrumentenhersteller Hohner in Trossingen, zu deren lautem Verfechter. Die griffige Formulierung von der „Verhohnerung“ der Jugendmusikbewegung, die sich in einem vertraulichen Schreiben von Walter Wiora an Egon Kraus und Herbert Saß vom 29. November 1955 findet,[*] bündelt in einem Wort, was Jöde in diesen Jahren – und zwar oft in äußerst massiver Form – vorgeworfen wurde: Kommerzialisierung und Preisgabe der Ausrichtung auf das Singen bei Hinwendung zu ehemals auch von Jöde selbst verschmähten Instrumenten, verbunden zwangsläufig mit erheblichen Abstrichen bei der musikalischen Qualität. Jödes „Schritt nach Trossingen“ stand im Zentrum einer Kontroverse, die für die Richtungssuche der um Profil ringenden Jugendmusikbewegung kennzeichnend ist. Jöde begründete seine Hinwendung zu den Volksmusikinstrumenten mit dem Faktum ihrer enormen Verbreitung, dem er sich mit allem Pragmatismus stellte, verbunden mit dem Appell, „wir sollten uns unserm ganzen Volk wirkend aufschließen, nicht aber nur denen, die so sind, wie wir sind.“[*] Die Kohärenz dieses Weges konnte er dabei mit der Widmung untermauern, die er bereits 1929 seinem Schulliederbuch „Der Musikant“ vorangestellt hatte: Nicht „der deutschen Jugend“ habe er den Band gewidmet, sondern „Dem deutschen Volke durch seine Jugend“.[*]
Während der wachsenden Spannungen zwischen Jöde und dem Kernkreis der Musikantengilde benannte sich – noch unter Jödes Vorsitz, aber nicht auf sein Betreiben – die Musikantengilde Ende 1952 in „Arbeitskreis Junge Musik“ (AJM) um, wobei zunächst „Musikantengilde“ noch als Untertitel weiter geführt wurde. Die Bezeichnung „Arbeitskreis Junge Musik“ sollte neben der Idee der „Jugendmusik“ auch den Bezug zur Musik der Zeit transportieren, der man sich verpflichtet wusste (ab 1968 lautete der Name „Arbeitskreis für Musik in der Jugend“/AMJ, 1982 verkürzt zu „Arbeitskreis Musik in der Jugend“). Jöde blieb noch bis zum November 1954 Vorsitzender des AJM, dann übernahmen drei gleichberechtigte Vorsitzende das Amt: Herbert Saß, Wilhelm Twittenhoff und Gottfried Wolters (1959 traten an die Stelle von Twittenhoff und Wolters Herbert Langhans und Willi Träder, Herbert Saß behielt sein Amt, bis Wolters 1964 schließlich alle drei ablöste und den Vorsitz allein übernahm). Die Auslassung des Untertitels „Musikantengilde“ erfolgte nach einem gemeinsamen Rundschreiben[*] des – aus dem Finkensteiner Bund um Walther Hensel hervorgegangenen – „Arbeitskreises für Haus- und Jugendmusik“ (Kassel) und des „Arbeitskreises Junge Musik (Die Musikantengilde)“ (Hamburg) anlässlich einer vereinbarten Zusammenarbeit beider Arbeitskreise, die fortan auf eine „selbständige Organisation von Sing- und Spielkreisen“ verzichten wollten. In dieser Kooperation wurde dem alten Gegensatz von Finkensteinern und Musikantengilde entgegengearbeitet (beide Arbeitskreise blieben jedoch bestehen). Im Rückblick wertete Jöde die Namensänderung von „Musikantengilde“ zu „Arbeitskreis Junge Musik“ schon als klares Zeichen der Distanzierung. In seinem Rundbrief an die „Freunde“ aus dem November 1955, der auf dem Höhepunkt des Konflikts entstand, schrieb er:
„Erst jetzt ist mir klar geworden, warum Herbert [Saß] während der letzten Jahre immer wieder drängte, den alten Namen ‚Musikantengilde‘ verschwinden zu lassen, und weshalb er zufrieden sein mußte, als er den ersten Schritt tun und ihn in den Untertitel hinabrücken konnte. Wir sind eben keine Musikantengilde mehr […]; wir sind ein Zweckverband geworden. Wir sind so sehr von dem bündischen Gedanken abgerückt, daß Toni [Grad] [bei einem Treffen in Rothenfels] ohne Widerspruch sagen konnte, er habe nie der Jugendbewegung angehört, wolle es auch gar nicht, und es ginge nicht um die Vergangenheit, sondern um die Gegenwart. Ja, laßt Euch sagen, daß ich mich da vergeblich im Kreise umsah und mich fragte, ob es denn niemand gemerkt hatte, daß mit dieser Äußerung ein Schlußstrich unter unseren bisherigen Weg gesetzt worden war. […] Sagt selbst: ist da mein Gedanke, aus dem Zweckverband auszutreten, wo ich in ihm doch nur noch den alten und offenbar nicht mehr zeitgemäßen Gedanken vertreten könnte, so fernliegend?“[*]
Jöde zog seine Konsequenzen. Weil er den Geist der Musikantengilde nicht mehr spürte und seine Vorstellungen auf starke Gegenwehr stießen, legte er den Ehrenvorsitz des Arbeitskreises Junge Musik nieder, blieb aber noch einfaches Mitglied. Er selbst ging den eingeschlagenen Trossinger Weg unbeirrt und entschlossen weiter, in einer bezeichnenden und mit Bedacht gewählten Formulierung postulierend, „dass ich meinen Weg im Sinne unseres gemeinsamen Weges auf meine Weise fortsetze“.[*]
Wenn der spätere AMJ-Vorsitzende Paul Wehrle 1988 – lange nach Jödes Tod – unter den inhaltlichen Impulsen des Arbeitskreises als selbstverständliche Errungenschaft „die Re-integration der Volksmusikinstrumente (Bläser, Zither, Akkordeonisten)“ erwähnt,[*] findet Jödes mit viel Gegenwehr bezahlter „Schritt nach Trossingen“ eine späte Bestätigung.
Jöde über Trossingen
Neue Institutionen
Die rasche Gründung der „Musikantengilde (Bund für Sing- und Spielkreise)“ (später AJM bzw. AMJ) 1947 stand am Anfang einer Fülle von Verbands- und Vereinsgründungen im Musikleben der Nachkriegszeit. Viele von ihnen geschahen unter Beteiligung der Musikantengilde bzw. des AJM/AMJ und seiner Mitarbeiter. So wurde etwa 1950 die „Arbeitsgemeinschaft für Musikerziehung und Musikpflege“ (AGMM) ins Leben gerufen, die mit allen Fragen der Schul-, Jugend- und Volksmusik befasst war.
Schon 1953 wurde auch – wiederum unter maßgeblicher Beteiligung der AGMM – der Deutsche Musikrat gegründet, der sich bis heute um die Förderung von Amateuren und professionellen Musikern gleichermaßen kümmert. Erster Präsident des Deutschen Musikrats war für mehr als ein Jahrzehnt der Musikwissenschaftler Hans Mersmann, der schon in den 1920er Jahren in Berlin über persönliche Bekanntschaft mit Jöde zur Jugendmusikbewegung gekommen war und unter anderem an dem Führertreffen in Brieselang 1926 aktiv teilgenommen hatte. Mitbegründer sowie erster und langjähriger Generalsekretär (1953-1979) war der Musikpädagoge Herbert Saß, der auch verantwortliche Positionen in der „Musikantengilde“ bzw. dem AJM innehatte und eng vernetzt war (der Arbeitskreis gehörte auch seinerseits zum Musikrat). Zusammen mit Eckart Rohlfs baute Saß als Generalsekretär des Musikrats den Wettbewerb „Jugend musiziert“ auf (ab 1964), in seine Amtszeit fielen auch die Gründungen von Bundesjugendorchester (1969) und Landesjugendorchestern. Damit lag ein wesentlicher Schwerpunkt der Tätigkeit des Deutschen Musikrats unter Herbert Saß auf der Förderung des musikalischen Nachwuchses auf einem hohen Niveau. (Wenn sich auch kein eigener Nachlass von Herbert Saß im Archiv der Jugendmusikbewegung findet, so ist seine Tätigkeit doch in Korrespondenzen und Informationsmaterial vielfach dokumentiert.)
Internationale Zusammenarbeit
Zunehmend bemühte man sich in der Nachkriegszeit – im vollen Bewusstsein, dass der Musik nicht nur eine kulturelle, sondern auch eine soziale bzw. politische Aufgabe zukam – um internationale Kooperationen. Schon in der Satzung der Musikantengilde von 1947 ist entsprechend festgehalten:
„Die Arbeit des Bundes erstreckt sich über das gesamte Gebiet der Bundesrepublik, sie steht in ständig helfendem Austausch mit Freunden in der Ostzone und sucht darüber hinaus Brücken von Volk zu Volk zu schlagen, um an dem gemeinsamen Aufbau der europäischen Völkerfamilie mitzuwirken.“
Bereits an den „Festlichen Tagen Junge Musik“, die in den 1950er Jahren wiederholt auf deutschem Boden stattfanden, waren ausländische Chöre aktiv beteiligt (reich dokumentiert sind im Archiv beispielsweise die Festlichen Tage in Wanne-Eickel 1952, in Passau 1954 und in Münster 1957). Der Arbeitskreis Junge Musik und der französische Chorverband „A Cœur joie“, 1940 von César Geoffray initiiert, gründeten nach jahrelangem Vorlauf 1963 gemeinsam die Europäische Föderation Junger Chöre (EFJC, erster Präsident: Francois Bourel, erster Generalsekretär: Paul Wehrle; heute European Choral Association – Europa Cantat). Der EFJC veranstaltete fortan das Festival „Europa Cantat“, das seit dem Start in Passau 1961 alle drei Jahre an wechselnden Orten Europas mit Tausenden von Teilnehmern stattfindet und für die frühen Jahre in Planungsunterlagen, Programmheften und Fotos nicht zuletzt im Nachlass von Gottfried Wolters umfangreich im Archivbestand dokumentiert ist (besonders Passau 1961, Nevers 1964 und Namur 1967).
Radiosendung zu Europa Cantat III
Für Gottfried Wolters, ab 1964 Vorsitzender des AJM (ab 1968 AMJ), war der kulturelle Austausch ein zentrales Anliegen seiner musikalischen Tätigkeit in der Nachkriegszeit. Hatte Wolters sich aufgrund seiner NS-Vergangenheit zunächst in der „Musikantengilde“ noch von Vorstandsämtern ferngehalten („Ich muss leider ablehnen. Meine Weste ist nicht rein genug“, wird er im Protokoll[*] der Gründungssitzung zitiert), konnte er später in AJM und EFJC in maßgebliche Funktionen aufsteigen und auch als Leiter des Norddeutschen Singkreises und Repräsentant des Offenen Singens zu einer prägenden Persönlichkeit des (Jugend-)Musiklebens werden. Der Gedanke der Völkerverständigung, der in Chorfesten und -reisen und den damit verbundenen internationalen Begegnungen gelebt wurde, mag für Wolters und manch anderen persönlich auch ein Stück Wiedergutmachung bedeutet haben. Er verband sich zunehmend mit der Absicht, einen Beitrag zu einem friedlichen Europa zu leisten. 1982 beteiligte sich der AMJ schließlich auch an der Gründung der „International Federation for Choral Music“ (IFCM), womit sich die internationale Dimension noch ausweitete. Das ausdrückliche Ziel der Völkerverständigung verfolgte auch die 1951 in Deutschland konstituierte „Musikalische Jugend Deutschland“ (MJD, zunächst Bayreuth, dann München), hervorgehend aus der belgisch-französischen Gründung der „Jeunesses Musicales“ (FIJM, Fédération Internationale des Jeunesses Musicales, 1945, heute JMI/Jeunesses Musicales International). Aktivitäten aus diesem Umfeld sind für die Jahrzehnte nach dem Krieg unsystematisch und verstreut im Archivbestand dokumentiert, meist über Materialsammlungen einzelner Beiträger.
Um dem zunehmenden europäischen Austausch Rechnung zu tragen, nahm 1969 auch der „Arbeitskreis für Hausmusik“ (AfH, bzw. seit 1952 „Arbeitskreis für Haus- und Jugendmusik“), der 1933 als getarnte Nachfolgeorganisation des gleichgeschalteten Finkensteiner Bundes im Umfeld des Kasseler Bärenreiter-Verlags gegründet worden war, einen neuen Namen an: Als „Internationaler Arbeitskreis für Musik“ (IAM bzw. iam) bereichert er seit 1969 das deutsche Laienmusikleben durch ein umfangreiches Kursangebot; besonders bei der Veranstaltung von Jugendmusikwochen kooperiert der IAM regelmäßig mit entsprechenden Verbänden anderer europäischer Länder. (Die Aktivitäten dieses Arbeitskreises sind im von Jöde begründeten Archiv der Jugendmusikbewegung weniger umfassend dokumentiert, doch finden sich Materialien zu Sing- und Musizierwochen verschiedener Zeiten sowie Schriftwechsel mit Beteiligten über die verschiedensten Teilbestände verstreut.)
Die weitaus meisten Akteure der früheren Jugendmusikbewegung lebten in der BRD. Für die DDR wurden von westdeutscher Seite Hilfsmaßnahmen durchgeführt, um die Versorgung der Musikinteressierten mit Notenmaterial, Musikliteratur und Instrumenten zu unterstützen. Solche Aktionen sind im Archiv gut dokumentiert. Dass auch ein aktives Interesse an der Musikerziehung der DDR bestand, bezeugt eine Studienreise, die Wilhelm Twittenhoff zusammen mit zwei weiteren Musikpädagogen 1966 unternahm und über die ausführliche Berichte existieren (vgl. AdJb A 228 Nr. 1008), unter anderem über „eine der vier Spezialmusikschulen der DDR“ in Dresden.
Nicht nur das Amateurmusizieren, durch verstärkte Auslandskooperationen bereichert und teilweise auf ein hohes Niveau gehoben, wurde im Deutschland der Nachkriegszeit in erheblichem Maße von Persönlichkeiten getragen, die in der früheren Jugendmusikbewegung wurzelten. Auch in allen anderen Bereichen, in denen die Jugendmusikbewegung vor 1933 aktiv war, traten nach der Zäsur durch die NS-Zeit die alten Akteure wieder auf den Plan.
Schulmusik
Große Aufmerksamkeit wurde in der Nachkriegszeit erneut der Schulmusik zuteil. An vielen Hochschulen entstanden in den Jahren nach dem Krieg Schulmusik-Seminare, etliche neu eingerichtete Pädagogische Institute boten eine Musiklehrerausbildung an. Fritz Jöde wurde bereits 1947 zum Leiter des Amtes für Schul- und Jugendmusik der Hamburger Schulbehörde berufen und übernahm von 1949 bis zu seinem Ruhestand die Abteilung Musikpädagogik an der Musikhochschule. Mit großem Engagement widmete Jöde sich dabei auch länderübergreifenden Aufgaben, er betrieb beispielsweise 1949 die Konstituierung des „Verbandes Deutscher Schulmusikerzieher“ (VDS). Etliche Akteure der frühen Jugendmusikbewegung waren in den Jahren nach dem Krieg an (neu gegründeten) Institutionen der Lehrerbildung bzw. Seminaren für Jugend- und Schulmusik tätig und prägten die nächste Lehrergeneration in Unterrichtsgestaltung und Lehrinhalten. Hilmar Höckner, Kurt Sydow oder Hermann Schütt wären als Beispiele zu nennen (besonders in den Nachlässen von Kurt Sydow und Hilmar Höckner ist diese Tätigkeit sehr umfangreich dokumentiert, bei Höckner auch mit studentischen Arbeiten).
Dass selbst ein Mann wie Heinrich Spitta, der für seine maßgeblichen Beiträge zur Feiergestaltung („Heilig Vaterland“ u.a.) in der NS-Zeit uk-gestellt und mit dem Kriegsverdienstkreuz ausgestattet worden war, ab 1950 an der Pädagogischen Hochschule in Lüneburg lehrte (ab 1957 als Professor), ist eines von vielen Beispielen dafür, dass Lehrinstitute in der Nachkriegszeit auf altgediente Kräfte zurückverwiesen waren, die zum Funktionieren des NS-Staates aktiv beigetragen hatten.
Mit den – bis heute fortgesetzten – Bundesschulmusikwochen knüpfte man in der Schulmusikpädagogik an die Tradition der früheren Reichsschulmusikwochen an, die von 1921 bis 1929 vom Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht unter der Leitung von Leo Kestenberg veranstaltet worden waren. Nach Leo Kestenberg, der Jöde 1923 in Berlin mit der ersten Professur für Musikerziehung überhaupt ausgestattet und weitgehende Unterrichtsreformen initiiert hatte, ist auch die bundesweit höchste musikpädagogische Auszeichnung benannt, die seit 1988 in zweijährigem Turnus vergeben wird: die Leo-Kestenberg-Medaille für besondere Verdienste um die Förderung der Musikerziehung (früher vom VDS, heute vom Bundesverband Musikunterricht/BMU vergeben).
Außerschulische Musikerziehung
Zum wichtigsten Ort der außerschulischen Musikerziehung wurde die Musikschule. Der kontinuierliche Aufbau des deutschen Musikschulwesens in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ist ohne die Arbeit jener Musikpädagogen, die in der Jugendmusikbewegung verwurzelt waren, nicht denkbar. Wegweisend wurde Wilhelm Twittenhoffs kleine Schrift „Neue Musikschulen. Eine Forderung unserer Zeit“ von 1951, mit der er sich explizit auf Jöde berief („Musikschulen für Jugend und Volk. Ein Gebot der Stunde“, 1924). Sie zog zahlreiche Schulgründungen nach sich (Twittenhoffs Nachlass liefert umfangreiches Material zu diesem Themenkomplex).
Die Gründung des Verbandes der Jugend- und Volksmusikschulen erfolgte 1952 in Oberwerries (seit 1966: Verband deutscher Musikschulen, VdM). Twittenhoff wurde der erste Vorsitzende, zu den Unterzeichnern gehörten mit Fritz Jöde, Richard Baum oder Wolfgang Stumme etliche Vertreter der frühen Jugendmusikbewegung. Als Fachverband kümmerte sich der Musikschulverband im Laufe der kommenden Jahrzehnte um die Institutionalisierung der außerschulischen Musikerziehung, Lehrpläne und beispielsweise auch um die Weiterentwicklung der musikalischen Früherziehung.
Twittenhoffs Name verbindet sich auch mit der 1958 eröffneten „Musischen Bildungsstätte Remscheid“, deren erster Leiter er war (1958-1967). In diesem Neubau-Projekt, entworfen von Architekt Werner Wirsing, fand der Wunsch nach einer der musischen Bildung verpflichteten und eigens zu diesem Zwecke errichteten Stätte Ausdruck, wie sie bereits 30 Jahre zuvor Georg Götsch mit dem Musikheim Frankfurt/Oder initiiert hatte. Die angebotenen Lehrgänge richteten sich in Remscheid zunächst in erster Linie an Jugendsozialarbeiter, sollten also Grundlagen für die außerschulische Bildungsarbeit vermitteln.
Dass auch die Volkshochschulen zunehmend in das Netz der außerschulischen musikalischen Bildungsarbeit integriert wurden und auch Musizierkreise hier Heimat fanden, dokumentieren im Archiv der Jugendmusikbewegung Nachlassmaterialien von Persönlichkeiten wie Heinrich Schumann, Friedrich Leuchtenberger oder Richard Kittlitz.
Kirchenmusik
Im Bereich der Kirchenmusik, die – ähnlich der Schulmusik – nach 1945 durch die Neugründung etlicher Kirchenmusikschulen einen enormen Institutionalisierungsschub erlebte, wirkten mit Walter Blankenburg und Wilhelm Ehmann an zentralen Stellen ebenfalls Persönlichkeiten, die der Jugendmusikbewegung eng verbunden waren. Blankenburg leitete nicht nur die neue Kirchenmusikschule in Schlüchtern, er begründete und führte auch die „Direktorenkonferenz der evangelischen kirchenmusikalischen Ausbildungsstätten Deutschlands“ und gab noch über mehrere Jahrzehnte das Periodikum „Musik und Kirche“ heraus. Ehmann leitete die neu gegründete Landeskirchenmusikschule in Herford; sein Engagement für Chor- und Posaunenchorarbeit, das in etlichen Editionen Niederschlag fand, entsprach in vielerlei Hinsicht den Ideen der Jugendmusikbewegung – nicht zuletzt in seiner Suche nach einem transparenten Posaunenchorklang.
Verlagswesen
Mit dem Bärenreiter- und dem Kallmeyer-Verlag, der nach dem Krieg von Karlheinz Möseler weitergeführt und ab 1947 unter dem Namen Möseler-Verlag betrieben wurde, setzten im deutschen Musikverlagswesen die beiden Hauptverlage der Jugendmusikbewegung ihre Arbeit fort. Sie blieben ihrem Programm treu und schufen sowohl mit Notenmaterial als auch mit Zeitschriften und Büchern die Grundlage weiterer musikalischer Arbeit mit Laien.
Jugendmusikbewegte im Exil
Um das Weiterwirken der Jugendmusikbewegung nach dem II. Weltkrieg zu betrachten, muss man den Blick auch über die Grenzen Deutschlands richten. Internationale Kooperationen, Festivals und wechselseitige Reisen, verbunden mit dem Völkerverständigungsgedanken, sind dabei nur ein Aspekt. Eine ganz andere Facette stellt die Tätigkeit von Exilanten in ihren jeweiligen Exilländern dar. Das prominenteste Beispiel ist Eduard Zuckmayer, der durch sein einflussreiches Wirken in Ankara die Musikpädagogik der Türkei maßgeblich prägte. Wie unmittelbar er dabei im Sinne der Jugendmusikbewegung agierte, beleuchtet exemplarisch Zuckmayers Kondolenzschreiben an Hilde Jöde von 1970: „Seine [Jödes] Werke, wie ‚Musikant‘, ‚Kanon‘, ‚Alte Madrigale‘ u.a. leben in der Praxis meiner Hochschule nun im ganzen Lande“.[*]
Das Wirken der Exilanten ist im Archiv der Jugendmusikbewegung nur punktuell dokumentiert, soweit es sich in Kontakten zu den früheren Mitstreitern äußert.
Das Ende?
Es bedarf kaum der Erläuterung, dass sich für eine Bewegung, bei der die unmittelbare Aktivität der Beteiligten von Einflüssen und Nachwirkungen nicht scharf zu trennen ist, schwerlich ein klares Ende benennen lässt. Gelegentliche Nennungen von Jahreszahlen in der Literatur sind entsprechend fragwürdig – so schreibt etwa Franz Riemer in einem biografischen Artikel über Jöde: „Im Jahr 1967 verschlechtert sich der Gesundheitszustand Jödes und er stellt seine Aktivitäten weitestgehend ein. Dieses Jahr gilt denn auch endgültig als das Ende der Jugendmusikbewegung“[*]. Selbst wenn man nur die direkte Beteiligung derjenigen zum Maßstab nimmt, die bereits vor 1933 in die Jugendmusikbewegung involviert waren, reicht die Bewegung über personelle Kontinuität noch weit in die 1970er Jahre hinein, also auch über den Tod Fritz Jödes (1970) hinaus. So sehr Jöde auch mit seinem gesamten Lebenswerk die Jugendmusikbewegung geprägt hat, kann sie doch keinesfalls an seiner Person festgemacht werden. Auch von den Akteuren der frühen Phase war manch einer noch in den 1970er Jahren in seinem Beruf tätig und führte die Ideen der Jugendmusikbewegung mit ihrer starken Aufwertung der Laienmusik weiter.
In der Gründung des „Archivs der Jugendmusikbewegung“, die Jöde 1959 vornahm, dokumentieren sich aber fraglos auch die Absicht, ein Resümee zu ziehen, und der Wunsch, das eigene Lebenswerk festzuhalten. Jöde stand durch seinen Schritt nach Trossingen und persönlichen Zwist mit etlichen alten Mitstreitern inzwischen nicht mehr im Mittelpunkt der Bewegung. Eng verbunden blieben ihm – neben den Mitarbeitern, die ihrerseits in Trossingen tätig waren – vor allen Dingen diejenigen, die nicht mehr selbst in der Arbeit mit der Jugend steckten, sondern eher in der Erinnerung an die Jugendmusikbewegung lebten, wie insbesondere Heinrich Schumann und Ekkehart Pfannenstiel, beide auch aktiv an der Archivarbeit beteiligt. Doch auch unter den Kritikern Jödes vergaßen letztlich nur wenige, was sie ihm verdankten. Eindrucksvoll ist die Liste der Gratulanten zum 75. und 80. Geburtstag Jödes in den 1960er Jahren (AdJb A 228 Nr. 1294 und 1354): Viele Menschen, darunter zahlreiche Musikpädagogen, bezeugten dem Mann ihre tiefe Dankbarkeit, der zu Recht als „Vater der Jugendmusikbewegung“ gilt.
Über ihre Errungenschaften, die uns zur Selbstverständlichkeit geworden sind, wirkt die Jugendmusikbewegung bis in unsere Zeit weiter. Wer etwa an einem „Offenen Singen“ teilnimmt, zum Unterricht in die Musikschule geht oder sich zu einer Musikfreizeit anmeldet, erntet – meist ohne es zu wissen – die Früchte der Jugendmusikbewegung.
(ub)